intenspiegel   Ich zeichnete ein magisches Quadrat in Yakubs rechte Hand und bat ihn, er solle sie hohl machen und goß einen Kreis Tinte mitten hinein. Ich fragte ihn, ob er sein Spiegelbild in dem Kreis deutlich wahrnehmen könne, und er antwortete mit Ja. Ich sagte ihm, er solle die Augen nicht erheben. Ich zündete den Weihrauch und den Koriandersamen an und verbrannte die Beschwörungen in dem Holzkohlenbecken. Ich bat ihn, er solle die Gestalt nennen, die er zu erblicken wünsche. Er bedachte sich und sagte zu mir: ›Ein wildes Pferd, das schönste, welches auf den Wiesen, die den Rand der Wüste säumen, zur Weide geht.‹ Er sah hin und erblickte die grüne und stille Flur und danach ein Pferd, das näherkam, flink wie ein Leopard, mit einem weißen Stern auf der Stirne. Er bat mich um eine Herde Pferde, so vollkommen wie das erste, und sah am Horizont eine breite Staubwolke und dann die Herde. Da wußte ich, daß mein Leben in Sicherheit war.

Das Tageslicht kam eben herauf, als zwei Soldaten in meinen Kerker traten und mich in das Gemach des Leidenden führten, wo schon der Weihrauch, das Holzkohlenbecken und die Tinte meiner harrten. So forderte er von mir und zeigte ich ihm alle Erscheinungen der Welt. Dieser tote Mann, den ich verabscheue, hielt in seiner Hand, was die toten Menschen irgend erblickt haben und die Lebendigen sehen: die Städte, Himmelsstriche und Reiche, in die sich die Erde teilt, die in ihrem Kern verborgenen Schätze, die Schiffe, die übers Meer fahren, die Geräte des Kriegs, der Musik und der Chirurgie, die anmutigen Frauen, die Fixsterne und die Planeten, die Farben, deren sich die Ungläubigen beim Malen ihrer abscheulichen Bilder bedienen, die Minerale und die Pflanzen, samt den Geheimnissen und Kräften, die sie bergen, die Engel aus Silber, deren Speise Lobpreis und Verherrlichung des Herren ist, die Austeilung der Preise in den Schulen, die Standbilder von Vögeln und Königen, die im Herzen der Pyramiden sinnd, der Schatten, den der Stier wirft, auf welchem die Erde ruht, und der Fisch, der unter dem Stier ist, die Wüsten Gottes des Barmherzigen. Er sah Dinge, die nicht zu schildern sind, wie die mit Gas erleuchteten Straßen und den Walfisch, der stirbt, wenn er den Schrei des Menschen vernimmt. Einmal befahl er mir, ich solle ihm die Stadt zeigen, die sich Europa nennt. Ich zeigte ihm ihre Hauptstraße, und ich glaube, es war in diesem reißenden Strom von Menschen, die alle in Schwarz gingen und viele mit Brillen, daß er zum erstenmal den Maskierten erblickte.

Diese Gestalt, zuweilen in sudanesischer Tracht, zuweilen in Uniform, jedoch stets mit einem Tuch vorm Gesicht, drang von da ab in die Visionen ein. Sie fehlte nie, und wir mutmaßten nicht, wer sie war. Auch waren die Erscheinungen des Tintenspiegels, die zuerst momentan und bewegungslos gewesen waren, jetzt verschlungener; sie gehorchten ohne Verzug meinen Weisungen, und der Tyrann folgte ihnen mit klarem Verstand. Allerdings waren wir beide am Ende jedesmal erschöpft. Die gräßliche Natur der Szenen war eine weitere Quelle der Ermüdung. Es waren immer nur Züchtigungen, Würgestricke, Verstümmelungen, Ergötzungen des Henkers und des Grausamen.

So erreichten wir schließlich den Morgen des vierzehnten Tages des Barmajat-Mondes. Der Tintenkreis war in die Hand gezeichnet worden, der Weihrauch in das Holzkohlenbecken gestreut, die Beschwörungen verbrannt. Nur wir beide waren zugegen. Der Leidende sagte mir, ich solle ihm eine unwiderrufliche und gerechte Bestrafung zeigen, weil sein Herz an diesem Tage einen Todesfall zu sehen begehrte. Ich zeigte ihm die Soldaten mit den Trommeln, das ausgebreitete Kalbsfell, die Leute, die sich an dem Schauspiel weideten, den Henker mit dem Schwert der Gerechtigkeit. Er verwunderte sich, als er ihn erblickte, und sagte zu mir: >Es ist Abu Kir, der deinen Bruder Ibrahim hingerichtet hat, der deinem Schicksal ein E.nde setzen wird, sobald mir die Wissenschaft beschieden ist, diese Figuren ohne deinen Beistand zu beschwören.< Er verlangte von mir, sie sollten den Verurteilten herbeischaffen. Als sie ihn brachten, wechselte er die Farbe, denn es war der unerklärliche Mann mit dem weißen Tuch. Er befahl mir, sie sollten ihm, ehe sie ihn töteten, die Maske abnehmen. Ich warf mich ihm zu Füßen und sagte: ›O König der Zeit und Grundstoff und Inbegriff des Jahrhunderts, diese Gestalt ist nicht wie die übrigen, weil wir seinen Namen nicht kennen noch den seiner Väter und auch nicht den der Stadt, die seine Heimat ist, so daß ich mich nicht getraue, an die Gestalt zu rühren, um nicht eine Schuld auf mich zu laden, für die ich Rechenschaft werde ablegen müssen.‹ Der Leidende brach in Lachen aus und schwor am Ende, er wolle gern die Schuld auf sich nehmen, wenn es da eine Schuld gäbe. Er beschwor es bei seinem Schwert und beim Koran. Da befahl ich, sie sollten den Verurteilten entkleiden und auf das Kalbsfell werfen und ihm die Maske herunterreißen. Dies alles geschah. Die entsetzten Augen Yakubs vermochten endlich dieses Gesicht zu schauen - das sein eigenes war. Er verhüllte sich aus Furcht und Wahnsinn. Ich drückte ihm die zitternde Rechte mit meiner Rechten, die fest war, nieder und befahl ihm, er solle dem Begängnis seines Todes weiter zusehen. Er war besessen von dem Spiegel: Er versuchte nicht einmal, die Augen zu erheben oder die Tinte auszugießen. Als das Schwert in der Vision auf das schuldige Haupt niederfuhr, stöhnte er mit einer Stimme auf, die bei mir kein Mitleid fand, und rollte zu Boden, tot.« - Aus dem Buch The Lake Regions of Equatorial Africa, von R. F. Burton, nach  (bo3)

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