- Walter Serner, Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte.
München 1982 (dtv 10054, zuerst 1925)
Tigerin (2) Die vier letzten aus den Ruinen von Norderney Geretteten saßen leichenblaß im Heck.
Die eine war das Fräulein Nat-og-Dag, eine sehr vermögliche alte Dame und
die Letzte des berühmten Geschlechts mit den zwei Farben Schwarz und Weiß im
Wappen und dem Namen, der »Tag und Nacht« bedeutet. Sie war fast sechzig, und
ihr Verstand war seit einigen Jahren nicht mehr in Ordnung, da sie, eine Dame
von untadeligstem Lebenswandel, sich für eine der argen Sünderinnen ihrer Zeit
hielt. In ihrer Begleitung war ein sechzehnjähriges Mädchen, die Comtesse Calypso
von P., eine Nichte des Dichters August von P. Bei aller Selbstbeherrschung,
die sie in der Gefahr bewiesen, zeigten die Gesichter der beiden Damen einen
Ausdruck von Wildheit, wie man es inmitten einer friedlichen
Zeit und Gesellschaft nur bei dem Adel noch sieht, dessen Tage gezählt sind.
Den Rudernden kam es so vor, als hätten sie zwei Tigerinnen im Boot, eine alte
und eine junge, die junge ganz wild, die alte desto gefährlicher, je zahmer
sie tat. Sie waren beide nicht im geringsten erschrocken. In der Jugendzeit
erscheint uns der Gedanke an den Tod oder an Fehlschläge als ein Unding; schon
der Schatten der Lächerlichkeit ist uns unerträglich. Aber wir glauben auch
felsenfest an unseren guten Stern und daß sich nichts gegen uns richten könne.
Mit den Jahren kommen wir zu der Ansicht, daß uns nichts glückt und das Mißgeschick
in der Natur der Dinge liegt, doch dann fragen wir nicht mehr viel danach, was
mit uns geschieht. So kommt alles ins reine. Bei Fräulein Malin Nat-og-Dag,
der völlig gleichgültig war, was ihr zustoßen könnte, gesellte sich zu diesem
Vorteil des Alters, weil ihr Geist in Unordnung geraten war, noch das Vorrecht
der Jugend, der einfache und anmaßliche Glaube, der als selbstverständlich annimmt,
es könne gar nichts schiefgehen. Vielleicht sogar glaubte sie nicht einmal,
daß sie sterben könne. Das sechzehnjährige Mädchen an ihrer Seite, dessen dunkle
Zöpfe sich gelöst hatten, daß die Haare flatterten, sah alles um sich herum
in einem Aufruhr: die Gesichter ihrer Gefährten, die Bewegungen des Bootes,
die schreckhafte, garstig-braune Färbung des Wassers unter sich; und sie hielt
sich selbst für eine Meeresgöttin. - (
blix
)
Tigerin (3) In diesem Freigehege befanden sich Schilder: Bitte nicht aussteigen! Dempsey habe ihn, Quecke, durch beruhigende Hinweise auf seine Fachkenntnisse, aufgefordert auszusteigen, und zu zweit hätten sie versucht, einen der Tiger, der sich freundschaftlich dem Tierpfleger und dessen Gast näherte, dazu anzuhalten, sich aufrecht an das Schild »Bitte nicht aussteigen« anzulehnen. Von einem solchen Schild mit stehendem Tiger habe steh Quecke (unter Zustimmung von Dempsey) einen effet, eine populäre Wirkung versprochen. Bei dem Versuch, den Tiger an das Schild heranzudirigieren, habe indessen ein zweiter Tiger dem fünfundzwanzigjährigen Dempsey einen Prankenhieb versetzt.
JOURNALIST: Aus Spaß?
QUECKE: Sah nicht nach Spaß aus.
JOURNALIST:
Aus Eifersucht?
QUECKE: Sie meinen, weil der Tiger, der den Prankenhieb austeilte,
selber zum Schild geführt werden wollte von dem beliebten Tierpfleger? JOURNALIST:
Ja. Oder er wollte den Kameraden schützen?
QUECKE: Vor dem Tierpfleger,
der sich doch nur bemühte? JOURNALIST: Irgendeinen Grund muß die Großkatze
gehabt haben ...
QUECKE: Hatte sie.
JOURNALIST: Und welchen, nach
Ihrer Beobachtung? QUECKE: Ich kann Großkatzen aus günstigen Schußpositionen
fotografieren, ich kann ihren Blick dagegen nicht enträtseln . . .
JOURNALIST:
Blickte die angreifende Katze denn auf, bevor sie mit der Pranke zuschlug?
QUECKE: Ich sah nicht zu ihr hin. Warum sagen Sie jetzt »sie« und nicht
er, wie es sich doch für einen Tiger gehört?
JOURNALIST: Ist mir unterlaufen
wegen Katze. Es heißt: die Katze. QUECKE: Interessanterweise war es eine Tigerin!
JOURNALIST: Und daraus wäre zu schließen?
QUECKE: Gar nichts. Eine Feststellung.
JOURNALIST:
Wie bemerkten Sie es?
QUECKE: Ich hatte ihr Geschlechtsteil in Großaufnahme
fotografieren wollen, sie hielt es jedoch so ungünstig, daß ich mit der langen
Brennweite zu keinem ruhigen Schuß kam.
JOURNALIST: Und der Tiger, der sich
steil aufstellen sollte an dem Schild »Bitte nicht aussteigen«, war ein männlicher
Tiger?
QUECKE: Gewiß, denn hiervon habe ich Großaufnahmen gemacht. Die Geschlechtswerkzeuge
von Großkatzen beiderlei Geschlechts sind bisher kein populäres Sujet. Sie können
da keine Story herausziehen. Sieht übrigens nicht nach Tiger aus, übrigens auch
nicht pornographisch, sondern »nie gesehen«. So etwas verkauft sich nicht.
JOURNALIST:
Schade.
QUECKE: Wieso schade?
JOURNALIST: Weil Sie jetzt diese Fotos haben,
den Unfall dagegen nicht. Es wäre übrigens nicht zum Unfall gekommen, wenn Sie
bei den pornographischen Großaufnahmen geblieben wären. Dann hätte der Tiger
sich nicht aufstellen müssen, an das Schild gelehnt.
QUECKE: Er wurde ja
erst hingeleitet. Der erfahrene Dempsey bugsierte ihn umständlich in Richtung
auf das Schild . ..
JOURNALIST: Das gelang nicht?
QUECKE: Nein.
JOURNALIST:
Was dann?
QUECKE: Die Pranke der Tigerin. Der Tierpfleger, mein Freund,
liegt wie leblos am Boden .. .
JOURNALIST: Und Sie?
QUECKE: Renne
ins Fahrzeug ...
JOURNALIST: Und jetzt?
QUECKE: Rennen die übrigen Wildkatzen
hinzu, stürzen sich auf den leblos Daliegenden.
JOURNALIST: Fiel Ihnen nichts
ein, ihn zu retten?
QUECKE: Ich habe mit Tigern keine Erfahrung.
JOURNALIST:
Haben Sie fotografiert?
QUECKE: Der Apparat lag neben dem Schild
»Bitte nicht aussteigen«. Ich stieg jetzt nicht mehr aus, sondern verhielt mich
nach der Anweisung des Schildes.
JOURNALIST: Das war Ihr einziger Anhaltspunkt
für den Umgang mit Tigern in einem Tiger-Freigehege . ..
QUECKE: Praktisch
der einzige. Ein Tiger zerrte den Pfleger etwa 24 Meter in ein Gebüsch. Aus
welchem Grund, weiß ich nicht.
JOURNALIST: Sie sitzen im warmen Auto?
QUECKE:
Ob warm, weiß ich nicht, aber verschlossen. Ich starte und fahre, hupend, kreuz
und quer durch die Tigerabteilung . . .
JOURNALIST; Was wollten Sie damit
bewirken?
QUECKE: Ich versuchte Bewegung in die Sache zu bringen, ohne
aussteigen zu . müssen. Die Tigerabteilung, das sind gut zwei Quadratmeilen.
Ein anderer Pfleger kam und brachte die Tiger durch Schreckschüsse zur Raison.
JOURNALIST:
Den Halbtoten fuhr man ins Krankenhaus? QUECKE: Wohin sonst?
Die Fotos, vor der Katastrophe geschossen, ergaben keine Story. Es fehlte den Redakteuren von Queckes Blatt an Erfahrung, was eine Story ist.
LEITER DER REDAKTIONSKONFERENZ: Wir könnten diese großteiligen Aufnahmen
von der Tiger-Vulva, die ich aus dem tierpsychologischen Atlas entnehme, zweiseitig
abbilden, dazu die Geschichte des Unfalls und auf der Rückseite Queckes Tiger-Pimmel,
ganzseitig.
BEISITZENDER REDAKTEUR: Der Kitzler der Tigerin, hier die Schamlippe,
sieht aus wie eine Landkarte, ein Teil des russischen Kontinents.
VORSITZENDER
REDAKTEUR; Genau. Könnte man sagen, daß der Prankenhieb der Kollegin liebevoll
gemeint war, ihr aber ausrutschte?
BEISITZENDER REDAKTEUR: Wie man will,
weil wir es ja nicht wissen. - (
klu
)
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