igerin   Sie hatte diesen Beinamen nicht nur erhalten, weil er im allgemeinen auf sie zutraf, sondern weil sie ihn tatsächlich vollauf rechtfertigte: sie war ausschweifend, grausam, hinterlistig, ja oft niederträchtig und von einem unhemmbaren Hang zum Vagabondieren besessen. Sie hatte kupferrotes Haar, schwarze von bläulichem Weiß umschlossene Augen und besaß jene scharfen Farben, welche die Pariserin sich anschminkt, teilweise von Natur aus. Sie trug zu jeder Jahreszeit Rock und Bluse, selten ein Brusttuch und nie einen Hut. Ihre Stimme war, obwohl im Grunde rauh, dennoch schneidend und von seltener Suggestivität. Sie sprach nur Argot, den sie durch eine große Zahl höchst eigenwilliger Wortbildungen vermehrt hatte. Drei Männer waren ihretwegen ins Gefängnis gekommen, zwei hatten sich ihretwegen erschossen und der unzählbare Rest ihrer Liebhaber, die sie alle nach wenigen Nächten abgeschüttelt hatte, ohne von Beschwörungen oder Drohungen sich imponieren zu lassen, wäre ausnahmslos auf das kleinste Zeichen hin, zu allem bereit, zu ihr zurückgekehrt. Sie war unter ihren Kolleginnen verhaßt, weil sie nie Geld verlangte. Die Männer drängten es ihr auf oder wertvolle Geschenke oder was sie eben hatten. Ihr Stolz war grenzenlos, ihr Hohn gräßlich und forderte man sie nur durch ein fast unmerkliches Lächeln heraus, so raufte sie mit jedem, wer immer es auch sein mochte, und mit einer Geschicklichkeit, die sie gefährlich machte. Das, was fast jedem Weib zumindest einmal im Leben widerfährt, einem Mann, sei es auch nur kurze Zeit, zu verfallen, war deshalb bei Bichette etwas geradezu Unglaubliches. - Walter Serner, Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte. München 1982 (dtv 10054, zuerst 1925)

Tigerin (2)   Die vier letzten aus den Ruinen von Norderney Geretteten saßen leichenblaß im Heck.

Die eine war das Fräulein Nat-og-Dag, eine sehr vermögliche alte Dame und die Letzte des berühmten Geschlechts mit den zwei Farben Schwarz und Weiß im Wappen und dem Namen, der »Tag und Nacht« bedeutet. Sie war fast sechzig, und ihr Verstand war seit einigen Jahren nicht mehr in Ordnung, da sie, eine Dame von untadeligstem Lebenswandel, sich für eine der argen Sünderinnen ihrer Zeit hielt. In ihrer Begleitung war ein sechzehnjähriges Mädchen, die Comtesse Calypso von P., eine Nichte des Dichters August von P. Bei aller Selbstbeherrschung, die sie in der Gefahr bewiesen, zeigten die Gesichter der beiden Damen einen Ausdruck von Wildheit, wie man es inmitten einer friedlichen Zeit und Gesellschaft nur bei dem Adel noch sieht, dessen Tage gezählt sind. Den Rudernden kam es so vor, als hätten sie zwei Tigerinnen im Boot, eine alte und eine junge, die junge ganz wild, die alte desto gefährlicher, je zahmer sie tat. Sie waren beide nicht im geringsten erschrocken. In der Jugendzeit erscheint uns der Gedanke an den Tod oder an Fehlschläge als ein Unding; schon der Schatten der Lächerlichkeit ist uns unerträglich. Aber wir glauben auch felsenfest an unseren guten Stern und daß sich nichts gegen uns richten könne. Mit den Jahren kommen wir zu der Ansicht, daß uns nichts glückt und das Mißgeschick in der Natur der Dinge liegt, doch dann fragen wir nicht mehr viel danach, was mit uns geschieht. So kommt alles ins reine. Bei Fräulein Malin Nat-og-Dag, der völlig gleichgültig war, was ihr zustoßen könnte, gesellte sich zu diesem Vorteil des Alters, weil ihr Geist in Unordnung geraten war, noch das Vorrecht der Jugend, der einfache und anmaßliche Glaube, der als selbstverständlich annimmt, es könne gar nichts schiefgehen. Vielleicht sogar glaubte sie nicht einmal, daß sie sterben könne. Das sechzehnjährige Mädchen an ihrer Seite, dessen dunkle Zöpfe sich gelöst hatten, daß die Haare flatterten, sah alles um sich herum in einem Aufruhr: die Gesichter ihrer Gefährten, die Bewegungen des Bootes, die schreckhafte, garstig-braune Färbung des Wassers unter sich; und sie hielt sich selbst für eine Meeresgöttin. - (blix)

Tigerin (3)  In diesem Freigehege befanden sich Schilder: Bitte nicht aussteigen! Dempsey habe ihn, Quecke, durch beruhigende Hinweise auf seine Fachkenntnisse, aufgefordert auszusteigen, und zu zweit hätten sie versucht, einen der Tiger, der sich freundschaftlich dem Tierpfleger und dessen Gast näherte, dazu anzuhalten, sich aufrecht an das Schild »Bitte nicht aussteigen« anzulehnen. Von einem solchen Schild mit stehendem Tiger habe steh Quecke (unter Zustimmung von Dempsey) einen effet, eine populäre Wirkung versprochen. Bei dem Versuch, den Tiger an das Schild heranzudirigieren, habe indessen ein zweiter Tiger dem fünfundzwanzigjährigen Dempsey einen Prankenhieb versetzt.

JOURNALIST:   Aus Spaß?
QUECKE:  Sah nicht nach Spaß aus.
JOURNALIST: Aus Eifersucht?
QUECKE: Sie meinen, weil der Tiger, der den Prankenhieb austeilte, selber zum Schild geführt werden wollte von dem beliebten Tierpfleger? JOURNALIST: Ja. Oder er wollte den Kameraden schützen?
QUECKE: Vor dem Tierpfleger, der sich doch nur bemühte? JOURNALIST:  Irgendeinen Grund muß die Großkatze gehabt haben ...
QUECKE:  Hatte sie.
JOURNALIST: Und welchen, nach Ihrer Beobachtung? QUECKE: Ich kann Großkatzen aus günstigen Schußpositionen fotografieren, ich kann ihren Blick dagegen nicht enträtseln . . .
JOURNALIST:  Blickte die angreifende Katze denn auf, bevor sie mit der Pranke zuschlug?
QUECKE: Ich sah nicht zu ihr hin. Warum sagen Sie jetzt »sie« und nicht er, wie es sich doch für einen Tiger gehört?
JOURNALIST:  Ist mir unterlaufen wegen Katze. Es heißt: die Katze. QUECKE: Interessanterweise war es eine Tigerin! JOURNALIST: Und daraus wäre zu schließen?
QUECKE: Gar nichts. Eine Feststellung.
JOURNALIST: Wie bemerkten Sie es?
QUECKE:  Ich hatte ihr Geschlechtsteil in Großaufnahme fotografieren wollen, sie hielt es jedoch so ungünstig, daß ich mit der langen Brennweite zu keinem ruhigen Schuß kam.
JOURNALIST: Und der Tiger, der sich steil aufstellen sollte an dem Schild »Bitte nicht aussteigen«, war ein männlicher Tiger?
QUECKE: Gewiß, denn hiervon habe ich Großaufnahmen gemacht. Die Geschlechtswerkzeuge von Großkatzen beiderlei Geschlechts sind bisher kein populäres Sujet. Sie können da keine Story herausziehen. Sieht übrigens nicht nach Tiger aus, übrigens auch nicht pornographisch, sondern »nie gesehen«. So etwas verkauft sich nicht.
JOURNALIST: Schade.
QUECKE: Wieso schade?
JOURNALIST: Weil Sie jetzt diese Fotos haben, den Unfall dagegen nicht. Es wäre übrigens nicht zum Unfall gekommen, wenn Sie bei den pornographischen Großaufnahmen geblieben wären. Dann hätte der Tiger sich nicht aufstellen müssen, an das Schild gelehnt.
QUECKE: Er wurde ja erst hingeleitet. Der erfahrene Dempsey bugsierte ihn umständlich in Richtung auf das Schild . ..
JOURNALIST:  Das gelang nicht?
QUECKE: Nein.
JOURNALIST: Was dann?
QUECKE:  Die Pranke der Tigerin. Der Tierpfleger, mein Freund, liegt wie leblos am Boden .. .
JOURNALIST:  Und Sie?
QUECKE: Renne ins Fahrzeug ...
JOURNALIST: Und jetzt?
QUECKE: Rennen die übrigen Wildkatzen hinzu, stürzen sich auf den leblos Daliegenden.
JOURNALIST: Fiel Ihnen nichts ein, ihn zu retten?
QUECKE: Ich habe mit Tigern keine Erfahrung.
JOURNALIST:  Haben Sie fotografiert?
QUECKE:  Der Apparat lag neben dem Schild »Bitte nicht aussteigen«. Ich stieg jetzt nicht mehr aus, sondern verhielt mich nach der Anweisung des Schildes.
JOURNALIST:  Das war Ihr einziger Anhaltspunkt für den Umgang mit Tigern in einem Tiger-Freigehege . ..
QUECKE: Praktisch der einzige. Ein Tiger zerrte den Pfleger etwa 24 Meter in ein Gebüsch. Aus welchem Grund, weiß ich nicht.
JOURNALIST:  Sie sitzen im warmen Auto?
QUECKE: Ob warm, weiß ich nicht, aber verschlossen. Ich starte und fahre, hupend, kreuz und quer durch die Tigerabteilung . . .
JOURNALIST; Was wollten Sie damit bewirken?
QUECKE:  Ich versuchte Bewegung in die Sache zu bringen, ohne aussteigen zu . müssen. Die Tigerabteilung, das sind gut zwei Quadratmeilen. Ein anderer Pfleger kam und brachte die Tiger durch Schreckschüsse zur Raison.
JOURNALIST: Den Halbtoten fuhr man ins Krankenhaus? QUECKE: Wohin sonst?

Die Fotos, vor der Katastrophe geschossen, ergaben keine Story. Es fehlte den Redakteuren von Queckes Blatt an Erfahrung, was eine Story ist.

LEITER DER REDAKTIONSKONFERENZ: Wir könnten diese großteiligen Aufnahmen von der Tiger-Vulva, die ich aus dem tierpsychologischen Atlas entnehme, zweiseitig abbilden, dazu die Geschichte des Unfalls und auf der Rückseite Queckes Tiger-Pimmel, ganzseitig.
BEISITZENDER REDAKTEUR: Der Kitzler der Tigerin, hier die Schamlippe, sieht aus wie eine Landkarte, ein Teil des russischen Kontinents.
VORSITZENDER REDAKTEUR; Genau. Könnte man sagen, daß der Prankenhieb der Kollegin liebevoll gemeint war, ihr aber ausrutschte?
BEISITZENDER REDAKTEUR: Wie man will, weil wir es ja nicht wissen.   - (klu)

Frauentier

 

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