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haben die Griechen, die humansten Menschen der alten Zeit, einen Zug von Grausamkeit,
von tigerartiger Vernichtungslust an sich: ein Zug, der auch in dem ins Groteske
vergrößernden Spiegelbilde des Hellenen, in Alexander
dem Großen, sehr sichtbar ist, der aber in ihrer ganzen Geschichte, ebenso wie
in ihrer Mythologie uns, die wir mit dem weichlichen Begriff der modernen Humanität
ihnen entgegenkommen, in Angst versetzen muß. Wenn Alexander die Füße des tapferen
Verteidigers von Gaza, Batis, durchbohren läßt und seinen Leib lebend an seinen
Wagen bindet, um ihn unter dem Hohne seiner Soldaten herumzuschleifen: so ist
dies die Ekel erregende Karikatur des Achilles,
der den Leichnam des Hektor nächtlich durch ein ähnliches Herumschleifen mißhandelt;
aber selbst dieser Zug hat für uns etwas Beleidigendes und Grausen Einflößendes.
Wir sehen hier in die Abgründe des Hasses. Mit derselben Empfindung stehen wir
etwa auch vor dem blutigen und unersättlichen Sichzerfleischen zweier griechischer
Parteien, zum Beispiel in der korkyrälschen Revolution.
Wenn der Sieger, in einem Kampf der Städte, nach dem Rechte
des Krieges, die gesamte männliche Bürgerschaft hinrichtet
und alle Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft, so sehen wir, in der Sanktion
eines solchen Rechtes, daß der Grieche ein volles Ausströmenlassen seines Hasses
als ernste Notwendigkeit erachtete; in solchen Momenten erleichterte sich die
zusammengedrängte und geschwollene Empfindung: der Tiger schnellte hervor, eine
wollüstige Grausamkeit blickte aus seinem
fürchterlichen Auge. Warum mußte der griechische Bildhauer
immer wieder Krieg und Kämpfe in zahllosen Wiederholungen ausprägen, ausgereckte
Menschenleiber, deren Sehnen vom Hasse gespannt sind oder vom Übermute des Triumphes,
sich krümmende Verwundete, ausröchelnde Sterbende? Warum jauchzte
die ganze griechische Welt bei den
Kampfbildern der Ilias? Ich fürchte, daß wir diese nicht „griechisch" genug
verstehen, ja daß wir schaudern würden, wenn wir sie einmal griechisch verstünden.
- Friedrich Nietzsche, Homers Wettkampf