iergarten  Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln. Diese Kunst habe ich spät erlernt; sie hat den Traum erfüllt, von dem die ersten Spuren Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Hefte waren. Nein, nicht die ersten, denn vor ihnen war das eine, welches sie überdauert hat. Der Weg in dieses Labyrinth, dem seine Ariadne nicht gefehlt hat, führte über die Bendlerbrücke, deren linde Wölbung die erste Hügelflanke für mich wurde. Unweit von ihrem Fuße lag das Ziel: der Friedrich Wilhelm und die Königin Luise. Auf ihren runden Sockeln ragten sie aus den Beeten wie gebannt von magischen Kurven, die ein Wasserlauf vor ihnen in den Sand schrieb. Lieber als an die Herrscher wandte ich mich aber an ihre Sockel, weil, was darauf vorging, wenn auch undeutlich im Zusammenhange, näher im Raum war. Daß es mit diesem Irrgarten etwas auf sich hat, erkannte ich seit jeher an dem breiten, banalen Vorplatz, der durch nichts verriet, daß hier, wenige Schritte von dem Korso der Droschken und Karossen abgelegen, der sonderbarste Teil des Parkes schläft.

Davon empfing ich früh ein Zeichen. Hier nämlich oder unweit muß ihr Lager jene Ariadne abgehalten haben, an deren Nähe ich zum ersten Male erfuhr, was mir als Wort erst später zufiel: Liebe. Leider taucht das »Fräulein« an seiner Quelle auf, das sich als kalter Schatten darüber legte. Und so war dieser Park, der wie kein anderer den Kindern offen scheint, auch sonst für mich mit Schwierigem, Undurchführbarem verstellt. Wie selten unterschied ich die Fische im Goldfischteich. Wieviel versprach die Hofjägerallee mit ihrem Namen und wie wenig hielt sie. Wie oft suchte ich das Gebüsch umsonst, in dem mit roten, weißen, blauen Türmchen ein Kiosk im Stil der Ankersteinbaukästen stand. Wie hoffnungslos kehrt mit jedem Frühling meine Liebe zum Prinzen Louis Ferdinand zurück, zu dessen Füßen die ersten Krokus und Narzissen standen. Ein Wasserlauf, der mich von ihnen trennte, machte sie mir so unberührbar, als wenn sie unter einem Glassturz gestanden hätten. So kalt im Schönen mußte fußen, was fürstlich ist, und ich begriff, warum Luise von Landau, mit der ich im Zirkel gesessen hatte bis sie gestorben war, am Lützowufer gegenüber von der kleinen Wildnis hatte wohnen müssen, die ihre Blüten von den Wassern des Kanals netzen läßt.

Später entdeckte ich neue Winkel; über andere habe ich zugelernt. Jedoch kein Mädchen, kein Erlebnis und kein Buch konnte mir über dieses Neues sagen. Als darum dreißig Jahre danach ein Landeskundiger, ein Bauer von Berlin, sich meiner annahm, um nach langer gemeinsamer Entfernung aus der Stadt mit mir zurückzukehren, durchfurchten seine Pfade diesen Garten, in welchen er die Saat des Schweigens säte. Er ging die Steige voran, und ein jeder wurde ihm abschüssig. Sie führten hinab, wenn schon nicht zu den Müttern allen Seins, gewiß zu denen dieses Gartens. Im Asphalt, über den er hinging, weckten seine Schritte ein Echo. Das Gas, welches auf unser Pflaster schien, warf ein zweideutiges Licht auf diesen Boden. Die kleinen Treppen, die säulengetragenen Vorhallen, die Friese und Architrave der Tiergartenvillen — von uns zum ersten Male wurden sie beim Wort genommen. Vor allem aber die Treppenhäuser, die mit ihren Scheiben die alten waren, wenn sich auch im Innern, das man bewohnte, viel geändert hatte. Die Verse weiß ich noch, die nach der Schule die Intervalle meines Herzschlags füllten, wenn ich im Treppensteigen halt machte. Sie dämmerten mir von der Scheibe, wo ein Weib, schwebend wie die Sixtinische Madonna, einen Kranz in Händen haltend, aus der Nische trat. Die Riemen meiner Mappe mit dem Daumen auf meinen Schultern lüftend, las ich ab: »Arbeit ist des Bürgers Zierde / Segen ist der Mühe Preis.« Die Haustür unten sank mit einem Seufzen, wie ein Gespenst ins Grab, zurück ins Schloß. Draußen regnete es vielleicht. Eine der bunten Scheiben stand offen, und beim Takte der Tropfen ging es weiter die Treppe herauf.

Unter den Karyatiden und Atlanten, den Putten und Pomonen, die mich damals angesehen hatten, standen mir nun am nächsten jene angestaubten aus dem Geschlecht der Schwel-lenkundigen, die den Schritt ins Dasein oder in ein Haus behüten. Denn sie verstehen sich aufs Warten. Und so war es ihnen eins, ob sie auf einen Fremden warteten, die Wiederkehr der alten Götter oder auf das Kind, das sich vor dreißig Jahren mit der Mappe an ihrem Fuß vorbeigeschoben hat. In ihrem Zeichen wurde der alte Westen zum antiken, aus dem die westlichen Winde den Schiffern kommen, die ihren Kahn mit den Äpfeln der Hesperiden langsam den Landwehrkanal heraufflößen, um bei der Brücke des Herakles anzulegen. Und wieder hatten, wie in meiner Kindheit, die Hydra und der Nemeische Löwe Platz in der Wildnis um den Großen Stern.  - (ben2)

Tiergarten (2) Im Namen des Volkes. Der Angeklagte wird wegen fortgesetzter Beleidigung zu einer Geldstrafe von acht Tagessätzen zu je dreißig DM verurteilt, im übrigen freigesprochen... Gründe: Der Angeklagte hat zu seinem Leidwesen mit seiner Sexualität ab und zu Probleme. In der Nacht vom 17. zum 18. November 1982 begab er sich in den Tiergarten und zeigte dort der Marion Brand und der Sabine Brecht, die dort als Prostituierte auf Kundschaft warteten, sein steifes Glied. Als die beiden zu ihm sagten, er solle "abhauen" und sie nicht in ihrem sogenannten Gewerbe stören, beschimpfte er sie mit den Worten Hure und Miststück.

Der Angeklagte hat diesen Sachverhalt in der Hauptverhandlung glaubhaft zugegeben. Die Staatsanwaltschaft hat ihn als fortgesetzte Beleidigung nach § 185 und als fortgesetzte exhibitionistische Handlung nach § 183 StGB anzusehen. Richtig ist, dass die Ausdrücke, die der Angeklagte verwendete, beleidigend sind, auch das Wort Hure, weil 'Hure’ zwar eigentlich nichts anderes bedeutet als Prostituierte, heute aber nur noch als Schimpfwort gebraucht wird. Der Tatbestand des § 183 StGB ist jedoch nicht erfüllt. Normalerweise hätte sich der Angeklagte durch seine Handlung schon als Exhibitionist strafbar gemacht, denn seine Handlung ist durchaus geeignet, bei den Betrachtern Abscheu und Ekel hervorzurufen oder zumindest das Schamgefühl zu verletzen... Bei Prostituierten, nachts im Tiergarten, liegt das aber anders. Von steifen Gliedern sind sie in ihrem seelischen Befinden nicht zu beeinträchtigen, im Gegenteil: so etwas gehört als wesentlicher Bestandteil zu ihrem Gewerbe... Für die Beleidigung genügt eine kleine Geldstrafe, auch schon deshalb, weil der Angeklagte wegen der Tat bereits andere erhebliche Nachteile gehabt hat. Er wurde nämlich, wie er in der Hauptverhandlung glaubhaft gesagt hat, von einem Mann, vermutlich von dem Zuhälter der einen Prostituierten, mörderisch verprügelt. Warnstädt.  - Rüdiger Warnstädt, Recht so. 80 originale Strafurteile aus dem Kriminalgericht Moabit. Verlag das Neue Berlin, Berlin 2003

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