iefsee   Die Bärte der Seehunde, die Schuppen der Fische phosphoreszieren. Seeigel rollen wie Räder, Ammonshörner spulen sich wie Kabel ab, die Austern kreischen in ihren Gelenken, Polypen wedeln mit ihren Fangarmen, Quallen schwanken wie Kristallkugeln, Schwämme treiben, Anemonen sprudeln Wasser, Moos und Seegras wächst. Merkwürdige Pflanzen verästeln sich, schrauben Spiralen, spitzen sich zu, fächern sich auf. Wasserkürbisse wölben sich wie Brüste, Lianen ringeln sich wie Schlangen. An den babylonischen Dedaimsbäumen hängen Menschenköpfe wie Früchte; Alraunen singen, die Wurzel Baaras gleitet im Gras.

Pflanzliches geht in Tierhaftes über. Polypen gleichen Sykomoren, Arme treiben aus ihren Ästen. Antonius sieht eine Raupe zwischen zwei Blättern: ein Schmetterling fliegt davon. Er tritt auf Geröll: eine graue Heuschrecke springt auf. Insekten hängen wie Rosenblätter an einem Busch; die toten Hüllen der Eintagsfliegen bedecken den Boden mit einer schneeigen Schicht.

Pflanzen gehen in Steine über.

Steinerne Gehirne, Stalaktiteneuter, eiserne Blumen wie Figuren in einem Teppich.

Blütenformen, Eisbrocken mit Abdrücken von Sträuchern und Muscheln - unmöglich zu erkennen, ob es die Abdrücke der Dinge oder die Dinge selbst sind. Diamanten strahlen wie Augen, Minerale zucken. Und er fürchtet sich nicht mehr!

Er legt sich auf den Bauch, stützt die Ellbogen auf und schaut, atemlos.

Insekten ernähren sich ohne Magen; verkümmerte Farne treiben wieder; fehlende Glieder wachsen nach. Und plötzlich sieht er kleine stecknadelkopfgroße, rings bewimperte Kugeln; sie vibrieren.

ANTONIUS  außer sich:

Oh! Glück! Glück! Ich habe die Geburt des Lebens, die Anfänge der Bewegung gesehen. Das Blut pocht zum Zerspringen in meinen Adern. Ich möchte fliegen, schwimmen, bellen, blöken, brüllen, hätte gern Flügel, einen Rückenschild, eine Rinde, möchte Rauch schnauben, einen Rüssel tragen, meinen Körper winden, mich teilen und in alles eingehen, mich in Gerüchen verströmen, mich entfalten wie die Pflanzen, fließen wie Wasser, schwingen wie der Ton, schimmern wie das Licht, jede Form annehmen, in jedes Atom eindringen, mich in den Grund der Materie senken - die Materie sein! - (vers)

Tieefsee (2)  Bis zur Tiefe von dreihundert Klaftern, heißt es, wissen die Menschen, wie es im Meer aussieht, darunter nicht mehr. Ob da unten noch Fische schwimmen, ob andere Tiere oder ob auch sie nicht dorthin vordringen können und nur Meergötter und Seegeister das Gebiet bevölkern und der Herrscher des nassen Elements, darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf, und auch kein anderer weiß es zu sagen.   - (ael2)

Tieefsee (3)  Wenn für den Südseefahrer der Anblick des Kraken mit mancherlei abergläubischen Vorstellungen verbunden ist, hängt das vor allem mit dem Umstand zusammen, daß sich dieser Anblick so wunderselten bietet und schon deshalb vom Schauer des Unheilvollen umwittert ist. Alle Seeleute erklären es zwar durchs Band weg für das größte Lebewesen der Weltmeere; da sie es aber nicht allzu häufig gesehen haben, tappen sie völlig im Ungewissen, was seine wahre Natur und Gestalt anbetrifft, sind aber dennoch überzeugt, daß es die einzige Nahrung des Pottwals bildet. Im Gegensatz zu andern Walfischarten, die an der Oberfläche äsen und bei der Nahrungsaufnahme beobachtet werden können, sucht sich nämlich der Pottwal sein Futter ausschließlich unter Wasser, kein Mensch weiß in welcher Tiefe, so daß sich die Art seiner Atzung nur auf Umwegen erschließen läßt. Von seinen Verfolgern bedrängt, würgt er zuweilen etwas heraus, was man als abgetrennte Fangarme des Tintenfischs angesprochen hat, wobei Stücke bis zu einer Länge von zehn Metern vorgelegt worden sind. Man vermutet, daß das Untier, von dem diese Arme stammen, sich damit am Meeresgrund festklammert und dort vom Zahnwal angegriffen und zerfetzt wird.   - (mob)

Tieefsee (3)  Hundert Fuß über unserem Kopf erhob sich der Gipfel des Berges, der sich als Schatten abzeichnete auf dem strahlenden Glanz der gegenüberliegenden Erhebung. Einige versteinerte Sträucher bildeten eine fratzenhaft verzerrte Zickzacklinie. Unter unseren Füßen erhoben sich Schwärme von Fischen wie überraschte Vögel aus dem Gras. Die Felsmasse war durchbrochen von unzugänglichen Höhlen, tiefen Grotten und unauslotbaren Löchern, in deren Tiefe ich unheimliche Geräusche hörte. Das Blut stockte mir, als ich einen gewaltigen Fangarm sah, der mir den Weg verlegte,

und gleichzeitig hörte, wie sich im Schatten einer Höhle knirschend die riesigen Scheren eines Krebses schlössen. Tausende von Lichtpunkten funkelten in der Dunkelheit. Es waren die Augen gigantischer Krustentiere, die in ihren Verstecken kauerten, Riesenhummer, die sich aufrichteten wie Hellebardiere und ihre Zangen mit blechernem Klappern bewegten, titanische Krabben wie auf Lafetten aufgeprotzte .Kanonen und schreckenerregende Kraken, die ihre Fangarme verschlangen wie ein lebendes Gestrüpp von Schlangen. - Jules Verne, Zwanzigtausen Meilen unter Meer. Zürich 1976 (zuerst 1870)

Tieefsee (4)    Ich kann nicht an die Tiefsee denken, ohne vor den namenlosen Geschöpfen zu schaudern, die vielleicht gerade in diesem Augenblick auf ihrem schlammigen Grunde herumkriechen und zappeln, die ihre alten Stein-Idole verehren und ihr scheußliches Abbild in unterseeische Obelisken aus wasserdurchtränktem Granit einmeißeln. Ich träume von dem Tage, wo sie sich über die Wogen erheben werden, um in ihren nassen Klauen die Reste einer schwächlichen, von Kriegen erschöpften Menschheit hinunterzuziehen - ein Tag, wenn das Land versinken und der finstere Meeresboden inmitten weltweiten Pandämoniums emporsteigen wird. Das Ende ist nah. Ich höre ein Geräusch an der Türe, als ob ein ungeheuerer, schlüpfriger Körper sich dagegendrückt. Es soll mich nicht finden. Gott, die Hand! Das Fenster! Das Fenster!   - Aus: H.P. Lovecraft, Stadt ohne Namen. Frankfurt am Main 1997 (st 2756, Phantastische Bibliothek 346)

Tieefsee (5)

- N.N.

Tieefsee (6) Welche Anziehungskraft hat denn in der Tiefe dieses Abgrunds, tausend Meter unter dem Meeresspiegel, einige der größten Verbrecher unserer Zeit zusammengebracht? Die Gegend ist kühl, doch eher hell als von Gestrüpp überwuchert. Keine Sorge um die Zukunft, kein verborgenes Licht ruft hier die herbei, die von Landschaft zu Landschaft die großen lebendigen Bekenntnisse suchen. Eine kleine Vorstadtvilla reckt zwischen Korallenriffen und singenden Luftblasen ihren Blitzableiter und ihren Taubenschlag empor neben der sanften Epidermis der roten Alge. Die auf diesem Wohnsitz aus- und eingehn, reden lieber von Haß als von Liebe. Der Zufall hat dieses Jahr berühmte Virtuosen zu dieser Lichtung geführt. Troppmann1, die Brinvilliers2, Vacher3, Soleilland4, Haarmann5... Welch Wohltätigkeitsfest könnte sich rühmen, so große Stars auf demselben Plakat zu vereinigen? Trotzdem sind sie da, ohne sich verabredet zu  haben, um sich auszuruhn, auch um nachzudenken, denn sie bereiten in dieser friedlichen Tiefe die geheimnisvollen Entwürfe vor, deren glanzvolle Vollstrecker noch nicht geboren sind. In der nächtlichen Stille braut die Brinvilliers wieder ihre verlorenen Gifte, mit jener wohlerwogenen Anmut, die ihr eine genaue und treffende Deutung der Arsengedanken gestattet. Vacher beschwört die Schönheit der liebestollen Prostituierten, Haarmann speist, Soleilland spielt, Troppmann lacht, in den Augen ein ganzes Ödland.

An den Krümmungen einiger Pfade, die Masten der untergegangenen Schiffe streifend, vermischen sich Worte ohne Lied mit diesem Piratenfluidum, und nie vielleicht zeigte sich ihre Macht mit größerer Freiheit. Die Anziehungskraft, die auf diese Verbrecher gewirkt hat, dürfte nichts anderes sein als die Reinheit, die Stille des Abgrunds, die der Mördersprache erlaubt, in gewisser Weise ihre Jugend wiederzufinden, den höchsten Grad an Kraft und Wirksamkeit, wo sie uneingeschränkt sie selbst ist, ohne daß etwas sie hemmt oder verfälscht.

Wir werden den Tag nicht mehr vergessen, da wir zum ersten Mal Soleilland ins Meer gehen sahen. Stille hatte sich nach und nach im Zimmer verbreitet, als dieser große junge Mann ans Bett trat und sich setzte. Er betrachtete die hellen Haare, in die er mit der Hand gefahren war, sammelte sich, und es schien, als ob er ein wenig seiner Erregung und seiner Geschicklichkeit, anfangs schweigend, auf diese wundervollen Locken übergehn lassen wollte. Nichts Geziertes in diesem Sich-Sammeln. Ihn allein nahm man wahr, und wirklich, in diesem Augenblick existieren wir alle mehr oder minder in ihm. Das Phänomen, das auf so seltsame Weise einen Menschen mit dem verbindet, was er liebt, gibt es nicht ohne die Macht, den Anspruch, die von ihm aus-gehn: es ist ebenso sehr ein Mißbrauch der Kraft wie selbst eine Kraft und ist zur Erheiterung der Dämonen bestimmt.

Als der Lärm in der Öffentlichkeit sich gelegt hatte, als er mit dem Meer in gleicher Höhe war, als er aufhörte, der Stärkste zu sein, nahm Soleilland dem Kind nur die Binde von den Augen. Neugeboren in Überraschung, bezeugten sie jäh das Leben, in einer heftigen und großartigen Zusammenfassung. Niemals ist uns etwas wie dies begegnet: in ihnen fand das Werk seine sichere Größe und Wahrheit. Es ist ein langwieriges Werk: solange es dauerte, steigerte sich der Eindruck durch ein so endgültiges Erraten, daß man nicht zweifeln konnte, dem Ende der Zeiten beigewohnt zu haben.

Alles begab sich, wir sagten es schon, unter dem Meeresspiegel. Wir waren nur auf dem Floß mit unseren Zeitgenossen, doch kaum der Romantik verdächtig. Damals bewunderte man das Genie eines Soleilland mit dem bezeichnenden Namen. Man begriff, daß es sich jenseits sogar der Intelligenz offenbarte, durch eine jener Gaben, die uns an etwas anderes glauben lassen als an die üblichen menschlichen Möglichkeiten. Als wir Soleilland sagten, was wir von ihm dachten, gab er uns mit jugendlicher Stimme zur Antwort: »Warum sagen Sie mir das?« »Weil wir es denken.« »Ich will Ihnen gern glauben.«

Er lächelte entzückt, daß man ihn für einen der größten lebenden Ratgeber in Gewissensfragen halten konnte.

1 Jean-Baptiste Troppmann, der 1869 eine achtköpfige Familie tötete, entwarf nach der Tat für sich eine Zeichnung, die die Lage der Leichen am Tatort veranschaulichte. Vom Gefängnis aus bat Troppmann seinen Bruder um Blausäure und Äther, damit er hiermit seinen Wärter töten könne. Eugen Sue's »Der ewige Jude« war sein Lieblingsbuch. Er schrieb Memoires secrets, Paris 1870. Bevor das Beil fiel, gelang es Troppmann, den Henker zu beißen.

2 Die Marquise de Brinvilliers, berühmte Giftmischerin in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sie wurde 1676 auf der Place de Greve hingerichtet. Eine vorzügliche Darstellung des Falles gibt E. T. A. Hoffmann in der Novelle »Das Fräulein von Scuderi«.

3 Joseph Vacher (1869—1897), genannt der Aufschlitzer, tötete 14 Menschen im Südosten Frankreichs. Die Opfer waren meistens junge Landarbeiter beiderlei Geschlechts; alle wurden verstümmelt. Nach seiner letzten Tat eilte Vacher in ein Wirtshaus, wo er auf der Ziehharmonika heitere Weisen spielte, bis die Polizei eintraf und ihn identifizieren konnte.

4 Albert Soleilland tötete 1907 ein kleines Pariser Mädchen. Er wurde zum Tode verurteilt, dann begnadigt. Diese Begnadigung wurde von der öffentlichen Meinung lebhaft angegriffen.

5 Am 17. Mai 1924 fand man in der Leine einen Schädel ohne Haare, ohne Fleisch und ohne Augen, 3 Tage später wieder einen und am 13. Juni einen dritten und einen vierten... Wie Fritz Haarmann junge Männer, die er an sich lockte, umgebracht hat, ist nicht völlig festgestellt worden. Er behauptete, daß er ihnen in der Erregung die Kehle durchgebissen habe. Arn 15. April 1925 wurde Haarmann wegen Mordes in 26 Fällen im Hof des Landgeiichts von Hannover mittels Fallbeiles hingerichtet. (Vgl. Theodor Lessing, Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs. München 1973) [Anmerkungen des Editors.]

 - André Breton, Paul Eluard, Die unbefleckte Empfängnis. München 1988 (Rogner & Bernhard, zuerst 1930)

Tieefsee (8)
 

 

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