Tiefe  Die Tiefe wurde klar und durchsichtig. In ihr bewegte sich etwas, das kein Brett war. Es stieg langsam empor, mit schier unendlich gleichgültiger Trägheit, ein langes dunkles torkelndes Etwas, das sich faul im Wasser drehte, während es aufstieg. Es durchstieß die Wasseroberfläche wie zufällig und leicht und ohne jegliche Hast. Ich sah nasse schwarze Wolle, dann eine Lederjacke, schwärzer als Tusche, Hosen. Ich sah Schuhe und ich sah etwas ekelhaft Gedunsenes zwischen den Schuhen und den Hosenaufschlägen. Ich sah eine Woge dunkelblonden Haars, das sich im Wasser schlängelnd strähnte und für einen kurzen Augenblick so blieb, so als handle es sich um eine vorausberechnete Wirkung, um sich dann wieder wirbelnd zu verwirren.

Das Etwas drehte sich noch einmal im Wasser, und ein Arm taumelte empor und ragte ein wenig aus dem Wasser. Und der Arm endete in einer aufgedunsenen Hand, der Hand eines Monstrums. Dann kam das Gesicht. Eine verquollene, breiige, weißgraue Masse ohne Gesichtszüge, ohne Augen, ohne Mund. Ein Haufen grauer Teig, ein Nachtmahr mit menschlichem Haar.

Ein schweres Halsband aus grünen Steinen deutete an, wo früher der Hals gewesen sein mußte, große, grüne, grobe Steine, halbversunken in dem Brei, dazwischen glitzerte, was sie zusammenhielt.  - Raymond Chandler, Die Tote im See. Zürich 1976 (zuerst 1943)

Tiefe (2)  Das nahegelegene Gaeta, die Stadt der Amme des Aeneas, der Hypaten und Docibili besitzt, wie jedermann weiß, einen gespaltenen Berg und eine Türkengrotte, beides vielleicht zu offenkundig; doch besitzt es auch, am Ende einer alten Straße hinter dem Militärgefängnis, einen herrlichen Abgrund über spitzen Felsen. Eine große Tiefe, wenn ihn sein Gedächtnis nicht im Stich ließ: wer könnte vermuten oder befürchten, auch nur einen Augenblick zu überleben, wenn er sich von dort hinunterstürzte? In Gaeta also, und eben an jener Stelle, würde sich sein Schicksal erfüllen müssen. Und die Vorstellung, wie dies eben in solchen Fällen geschieht, prägte sich ihm sogar schmeichlerisch und tröstlich ein: er von den Felsen zerfleischt, in Fetzen gerissen, endlich aus der Welt getilgt.

Immer langsam: all diese Einzelheiten waren  nichts als eine Konjektur. Es bestand im Gegenteil die Gefahr, daß sein Körper beim Fall in sich zusammensacken würde; was, ohne daß er dadurch weniger tot wäre, ihm eine gewisse Einheit bewahren und ihn den Untersuchungs- und Erkennungsdiensten preisgeben würde. Das Bild, das er sich ausgemalt hatte, entsprach also nicht ganz den gestellten Anforderungen.   - Tommaso Landolfi, Gute Hoffnungen. Nach (land)

Tiefe (3)  Es stellt sich für jedes tiefer gerichtete Bestreben der Augenblick ein, in dem der Hunger durch Wissenschaft nicht mehr gestillt werden kann und in dem erkannt wird, daß durch Begriffe nur die Maske des Lebens abgetastet wird.

Dieses Gefühl stellt sich bei mir manchmal ein, wenn ich meinen Loligo nach allen Regeln der Kunst bearbeite. Alle diese seltsamen Gehäuse des Lebens haben eine Kraft verwaltet, deren Einsicht sich ihnen auch durch die schärfsten Mittel nicht abzwingen läßt.

Merkwürdigerweise hatte ich manchmal ein ähnliches Gefühl, wenn ich etwa in politischen Versammlungen irgendeinen faden Schwätzer endlos reden hörte und ihm doch zubilligen mußte, daß während eben dieser Zeit eine höchste Weisheit seine inneren Organe in Tätigkeit hielt, daß mannigfache Drüsen sein Blut ununterbrochen mit ihren Sekreten speisten, daß sich in ihm das Wunder der Verdauung vollzog, daß jede Zelle ihre Arbeit verrichtete, kurz daß ein wunderbares Leben in ihm schaltete. War der Schluß zu kühn, daß wahrscheinlich auch dieses Geschwätz einen geheimeren Sinn, eine verborgenere Aufgabe erfüllte, als sie der Schwätzer beabsichtigte? Ohne Zweifel ist der Mensch viel tiefer, als er es sich träumen läßt, vielleicht sogar ebenso tief wie das Tier. - (ej)

Tiefe (4) Fern, in unvermindertem Prangen, eine feuer- und finsterrote Blume, mehr Gesträuch als Blume und dennoch Blume, groß, vielköpfig, unbegreiflich üppig und unbegreiflich drohend zugleich. - Todkündendes Rot. - Daneben saß einer, den Baubo erkannte, wiewohl sie nur seinen Rücken sah; der immer Fröhliche hielt den Kopf in den Händen vergraben, und zu seinen Füßen klaffendes Schwarz. - Die Herde war verschwunden. - Baubo fand ihren Jüngsten dem Wahnsinn nahe, ausgezehrt und zum Schatten gemagert; er heulte leise in sich hinein, Versickern einer erschöpften Klage, die den Leib schon nicht mehr erbeben machte; er saß reglos, wie mit der Erde verwachsend, doch als Baubo, nach vergeblichem Anruf, sacht an seine Schulter rührte, schnellte er hoch, wie von einer Viper gebissen, und wand sich dann schreiend am Rand der Schlucht.

Diese Schlucht, Baubo hatte sie vordem nie gesehen; ihr entsproß auch die nie noch gesehene Blume, sie senkte ihre Wurzel in dies grundlose Klaffen, das so breit war, daß kein Pferd darübersetzen konnte; die Erde schien bis durchs Zwerchfell zerrissen; die Tiefe verlor sich in finsterster Nacht. - Unmöglich, diese Schlucht je übersehen zu haben, sie war nicht eine bloße Vertiefung im Boden, sie führte in ein anderes Reich. - Also war Kores Räuber nicht Zeus gewesen, wie Baubo es anfangs zu wissen geglaubt, sondern der, dessen Namen man nur ausspricht, wenn man dabei den Kopf abwendet: der Schwarze, der Herrscher über die Schatten, Hades, der König der Unterwelt. - Wie aber konnte Zeus dies dulden? Demeter war seine Schwester, Hades beider Bruder, und man wußte, Zeus selbst hatte Kore gezeugt. - Oder war der Entführer eines der im Erdreich eingeschlossenen Ungeheuer, die Gaia ausgebrütet hatte und die sie nun wieder in ihrem Bauch trug, dies Gezücht der Drachen, Hydren und Schlangen, fünfzigköpfig und hundertbeinig, deren Abbild die Blume schien, prangend in allen Farben des Mords? -Aber wie hätte wiederum Hades geduldet, daß Solche durch sein Reich gefahren? Und sie hätten sich auch, diese Ungeheuer, niemals nur mit dem Mädchen begnügt, sie zögen jetzt, das Land zermalmend, als schnaubender Heerwurm zum Olymp, die Macht des verhaßten Einen zu brechen, der sie, die doch auch dazusein begehrten, in die finsterste Finsternis gezwungen, und Gaia selbst wäre die erste gewesen, die ruchlose Nachkomme zu entthronen, die sich als neue Hohe Mutter an die Stelle der Großen Uralten geschoben -: nein, der Räuber konnte nur Hades sein!

Baubo, all dies mehr wissend denn erwägend, kniete längst neben dem immer noch Schreienden; sie hatte ihn von der Schlucht weggewälzt und sprach nun leise auf ihn ein, in dem Singsang, in dem sie die Prinzlein beruhigt, wenn die aus Alpträumen aufgefahren; sie hielt seinen Kopf in ihrem Schoß und wiegte ihn und summte dazu, und allmählich wurde der Geschlagene ruhig, und schließlich schlief er für kurze Zeit ein. - Erwacht dann konnte er etwas stammeln, zwei Worte zumeist: «das Mädchen» -«der Schwarze», und einmal schrie er: «Wo sind meine Tiere?», und dann murmelte er: «hinab, hinab».  -  Franz Fühmann, Baubo. Nach (fue)

Tiefe (5)  Wie mein Großonkel ging, wie Johansen ging, so werde auch ich gehen. Ich weiß zuviel, und der Kult ist noch lebendig.

Und Cthulhu lebt noch - wie ich annehme -, wieder in dem steinernen Abgrund, der ihn schützt seit der Zeit, da die Sonne jung war. Seine verfluchte Stadt ist wieder versunken, denn die Vigilant segelte nach dem Aprilsturm über die Stelle hinweg; aber seine Diener auf Erden heulen, tanzen und morden noch immer in abgelegenen Wäldern um götzengekrönte Monolithen. Er muß beim Untertauchen wieder in seiner schwarzschlündigen Versenkung verschwunden sein, sonst würde jetzt die Welt in Furcht und Schrecken rasen. Wer weiß das Ende? Was aufstieg, kann wieder untergehen, und was versank, kann wieder erscheinen. Grauenvolles wartet und träumt in der Tiefe, und Fäulnis kommt über die wankenden Städte der Menschen. H. P. Lovecraft, Cthulhus Ruf. In: Cthulhu. Geistergeschichten. Übs. H. C. Artmann. Frankfurt am Main 1972 (st 29, zuerst 1928)

 

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