Theologin    Ich will nun in den ersten Stock hinaufgehen (ich lebe nämlich in einem kleinen zweistöckigen Haus, zwei Räume pro Stockwerk) und will es meiner Mutter erzählen. Seit ein paar Tagen habe ich sie in einem dicken grünen Wirtshausglas untergebracht, in das ich ihr auch die Dinge gelegt habe, die sie braucht: Nadel und Faden zum Wieder annähen ihrer Glieder, wenn sie sich von den morschen Gelenken lösen, und einen winzigen Plastik-Rosenkranz, der von acht religiösen Bekenntnissen anerkannt wird und ihr dadurch eine gute theologische Grundlage bietet, und auf dem sie gerne herumrutscht, wobei sie eine Schneckenspur hinterläßt, an der man den Grad ihrer Frömmigkeit ablesen kann. Heute ist sie ganz Schleim, ein Zeichen dafür, daß der Gott des Tages - wer immer es sein mag - ihr genehm ist. Tatsächlich hätte meine Mutter eine Theologin von Rang werden können, aber ihr Jähzorn hat sie daran gehindert. Sie zögert beispielsweise nicht, einen Gott, mit dem sie sich gezankt hat, zu »vernichten«, oder ihm wenigstens zu schaden. So hat sie vor zwei Jahren einer zum Glück zweitrangigen gnostischen Gottheit eine Grippe angehängt, mit der Folge, daß das gesamte südliche Europa über Monate von einer schrecklichen Dürre heimgesucht wurde. Und doch ist sie nur ein ganz geringes Personellen, ja mehr noch als ein Personellen ein Häufchen nachlässig gebündelter Überreste, ein Lehmklümpchen von Frau, halb flüssig halb klümperig, und es ist nicht ausgeschlossen, daß der eine oder andere ihrer Körperteile noch von früheren Kadavern stammt, die mitzuschleppen ihr irgendwie gelungen ist, denn sie ist außerordentlich geizig und konservativ.    - Giorgio Manganelli, Unschluß. Berlin 1978
 

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