theaterabend

 

- Erich von Götha

Theaterabend (2)  «Ich hatte kaum meine Loge betreten, als meine Augen vom Eindruck dichter Finsternis überrascht wurden, die mir irgendwie mit dem Gedanken an die Kälte verwandt schien. Es kann sein, daß diese beiden Ideen sich gegenseitig verstärkten. Ihr wißt, daß Haschisch immer die Pracht des Lichtes, glorreichen Glanz, Kaskaden aus flüssigem Gold heraufbeschwört. Alles Licht ist ihm willkommen: dasjenige, welches in breiten Flächen herabriesclt, und dasjenige, das sich wie Stroh an Spitzen und Unebenheiten haftet, die Armleuchter in den Salons, die Kerzen im Marienmonat, die rosigen Lawinen der Sonnenuntergänge. Anscheinend verbreitete dieser elende Kronleuchter nur recht ungenügendes Licht und genügte meinem unstillbaren Durst nach Helligkeit nicht. Ich glaubte, wie ich es schon sagte, in eine Welt der Finsternis einzutreten, die übrigens immer dichter wurde, während ich von Polarnächten und ewigem Winter träumte. Die Bühne aber (es war eine Komödienbühne) war hell erleuchtet. Sie war unendlich klein und sehr, sehr weit entfernt, wie am Ende eines riesigen Stereoskops. Ich will euch nicht sagen, daß ich den Komödianten zuhörte. Ihr wißt, daß dies unmöglich ist. Von Zeit zu Zeit fing mein Geist im Flug einen Sprachfetzen auf und bediente sich seiner, wie eine geschickte Tänzerin sich eines Sprungbretts bedient, um sich in sehr weit entlegene Träumereien hinüberzuschwingen. Man könnte annehmen, ein auf diese Weise vernommenes Schauspiel entbehre der Logik und des Zusammenhangs. Laßt euch eines Bessern belehren! Ich entdeckte in dem Drama, das aus meiner Zerstreutheit entstand, einen äußerst feinen Sinn. Nichts mißfiel mir darin.Ich glich ein wenig jenem Dichter, der Esther zum erstenmal aufgeführt sah und es ganz natürlich fand, daß Haman der Königin eine Liebeserklärung machte. Es war, man errät es, der Augenblick, da dieser sich Esther zu Füßen wirft, um von ihr die Verzeihung für seine Verbrechen zu erflehen. Wenn alle Dramen auf diese Weise angehört würden, gewännen sie große Schönheiten, sogar die von Racine. Die Schauspieler erschienen mir außergewöhnlich klein und von genauen und sorgfältig nachgezogenen Umrißlinicn umgeben, wie Figuren Meisso-niers. Ich sah nicht nur die geringsten Einzelheiten ihrer Kleidung, die Stoffdessins, Nähte, Knöpfe usw., sondern sogar die Trennungslinie zwischen der Perücke und der Stirn, das Weiß, Blau und Rot und alle die Schmiiikmirtcl. Und diese Liliputaner waren von kalter und magischer Helligkeit umkleidet. Es war, wie wenn eine sehr klare Glasscheibe ein Ölgemälde aufhellt. Als ich endlich aus dieser Höhle eisiger Finsternis hinaustreten konnte, als die innere Phantasmagoric sich verflüchtigte und ich mir selber wiedergegeben war, empfand ich größere Müdigkeit, als sie mir angespannte und anstrengende Arbeit je verursacht hatte.» - Nach: Charles Baudelaire, Die künstlichen Paradiese. Zürich 2000 (zuerst ca. 1860)

 

Theaterbesuch Abend

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe

Synonyme