Theater, modernes  Ob das Théâtre Moderne jemals seine Glanzzeit gehabt hat? Wenn man dort an den Tagen des größten Zulaufs dreißig Zuschauer sieht, muß man unwillkürlich an das Schicksal dieser kleinen Theater denken, die, das muß man sagen, wahre Bonbonnieren sind. Fünfzehnjährige Burschen, einige dicke Männer und zufällig hineingeratene Besucher stehlen sich auf die hintersten Sitze, die am billigsten sind, während einige rosa Zuckerpuppen, Professionelle oder Schauspielerinnen zwischen zwei Auftritten, sich auf den Plätzen zu fünfundzwanzig Francs breitmachen. Manchmal leistet sich ein Fleischer oder ein Portugiese, auf die Gefahr hin, daß ihn der Schlag rührt, die Verrücktheit eines ersten Rangs, um mehr Fleisch zu sehen. Man hat hier recht unterschiedliche Stücke gespielt, L'École des Garçonnes, Ce Coquin de Printemps und, so etwas wie ein Meisterwerk, Fleur de Péché, immer noch das Paradestück des erotischen Genres und ungewollt lyrisch: unsere Ästheten in Avantgardenöten sollten es sich unbedingt einmal ansehen. Dieses Theater, das als Mittel und Zweck nur die Liebe kennt, ist ohne Zweifel das einzige, das uns eine unverfälschte und wirklich moderne Schauspielkunst zeigt. Warten wir ab, schon bald werden die der Music-halls und der Zirkusse überdrüssigen Snobs wie Heuschrecken über diese geächteten Theater herfallen, wo die Notwendigkeit, einige Mädchen und ihre Zuhälter und zwei oder drei schmächtige Schandbuben zu ernähren, eine Kunst hervorgebracht hat, die genauso erstklassig ist wie die der Passionsspiele im Mittelalter. Eine Kunst mit ihren Konventionen und Kühnheiten, ihren Gesetzen und Widergesetzlichkeiten. Der Stoff, der am meisten benutzt wird, hält sich mehr oder weniger an folgendes Schema: Eine von einem Sultan entführte Französin langweilt sich im Serail zu Tode, bis ein Bruchpilot oder ein Botschafter kommt und für Zeitvertreib sorgt, wobei er von seinen Zärtlichkeiten immer wieder durch die lächerliche Leidenschaft abgehalten wird, die er der Köchin oder der Sultanmutter einflößt, und alles endet wie man es sich besser nicht wünschen kann. Irgendein Vorwand, ein im Harem gegebenes Fest, ein Photoalbum, das man beim Singen durchblättert, genügt, um fünf oder sechs nackte Frauen, die die Erdteile oder die Rassen des ottomanischen Reiches vorstellen, vorbeitänzeln zu lassen. Hier ist man der großen dramatischen Mittel der antiken Komödie, die für Spannung sorgen, wie Mißverständnisse, Verkleidungen, Liebesleid bis hin zu Verwechslungen eingedenk geblieben. Auch der Geist des ursprünglichen Theaters ist hier durch die natürliche Gemeinschaft von Zuschauer und Darsteller bewahrt, dank der Lüsternheit der Männer, den herausfordernden Reizen der Frauen oder der Privatunterhaltungen, zu denen es häufig durch schallendes Gelächter der Zuschauer, ihre Kommentare, die Schimpfereien der Tänzerinnen mit dem ungezogenen Publikum und die gegebenen Rendezvous kommt und was dem in monotoner und oft mißtönender Weise hergeplapperten oder gestotterten oder soufflierten oder einfach ungeniert abgelesenen Text einen noch größeren, unvermuteten Reiz verleiht. Einige festgelegte Charaktere bilden den recht beschränkten Bestand der dramatischen Fauna: eine Art Megäre, ein dämlicher und protziger Intrigant, ein verweichlichter Prinz, ein Held wie aus der Vie Parisienne getreten, eine exotische Faunin mit Sinn für das Tragische in der Liebe, eine Pariserin, deren Handlungsweise und Philosophie sich ganz nach dem Geschmack des Boulevards richtet, nackte Frauen und eine oder zwei Dienerinnen oder Botinnen. Die Moral ist die der Liebe, um die sich alles dreht: die sozialen Probleme werden hier nur dann kurz gestreift, wenn sie einen Vorwand zur Exhibition liefern. Die Truppe wird schlecht bezahlt und nimmt sich in ihren Rollen manche Freiheiten heraus, sie lebt von Abenteuern. Auch ist sie wie jede echte Artistentruppe streng und kann Spaße oder Radau schlecht vertragen. In den Pausen werden die Spötter von den zuständigen Beschützern der Darstellerinnen beiseite genommen: »Was hat dir die Kleine denn getan?« Man verteidigt sein Beefsteak, u.a. In dieser Alhambra der Nutten endet schließlich mein Spaziergang, zu Füßen dieser Bronnen und moralischen Verworrenheiten, die gleichermaßen gezeichnet sind von der Pranke des Löwen und den Zähnen des Zuhälters. In der der Antike nachgeahmten Gebärde der kleinen Sklavin, die an die Rue Aubry-le-Boucher denken muß, während sie ihre Rolle spielt: Salut, maîtresse! und der Chor singt:

C'est le mois de Vénus.
C'est le mois le plus beau.

(eine Lästerung der falschen Perlen und des Flitterkrams, der die Geschlechtsteile verbirgt), erstarrt die arabische Architektur aus ausgezackten rosa Steinen, wo weder das menschliche Gesicht einen Spiegel noch die Seufzer ihr ersehntes Echo finden. Der Geist verfängt sich in diesen Netzen, die ihn unwiderruflich mit sich reißen, dorthin, wo sein Schicksal sich erfüllt, ins Labyrinth ohne Minotaurus, wo, verklärt wie die heilige Jungfrau, der Irrtum mit seinen Röntgenfingern wieder auftaucht, meine singende Mätresse, mein pathetischer Schatten. Ihr Haarnetz macht einen wunderbaren Fischzug von Messern und Sternen. Aberglauben fliegen auf wie Mauersegler, die wie hochgeschleuderte Kieselsteine auf die ratlosen Gesichter längs der schlecht erleuchteten nächtlichen Straßen fallen. Meine arme Gewißheit, an der mir soviel lag, was ist aus ihr geworden in diesem großen Taumel, da das Bewußtsein sich vorkommt wie ein einfacher Vorplatz der Abgründe, was ist aus ihr geworden? Ich bin nichts als ein Augenblick eines ewigen Falls. Den verlorenen Halt findet man nie wieder.  - (ara)

 

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