erminverschiebung
REIHENFOLGE DER TOTENTEILE
BEIM HEREINKOMMEN ZUM JÜNGSTEN GERICHT Im
Namen der Wirklichkeit der Toten muß ich vor Hörensagen warnen, daß das Jüngste
Gericht in einer Art großem Gerichtssaal stattfindet, dieser aber wäre nicht
raumgreifend genug für die zahllosen Toten und so kehrt es sich um: das gibt
es gar nicht. Ähnlich absurd wie: am soundsovielten Oktober jenes Jahres versammelten
sich die Toten. Das würde praktisch daran scheitern, daß die Nachricht niemals
zu allen einzelnen Totenteilen durchdringt. Wie soll eine Stimme, ein Hörn,
eine Posaune die Vielen erreichen, die doch die Hörorgane verloren haben? Wir
könnten es nämlich eher an den Erschütterungen des Bodens bemerken: »die Erde
bebt, der Vorhang im Tempel zerreißt . . .«. Ein solches Signal kann aber auch
Krieg heißen, dann sollten wir nicht emportauchen, woran schon falsch ist, daß
wir ja nicht örtlich unten liegen, sondern in Bewegung, irgendwie dazwischen
- und nicht jederzeit mit Bodenhaftung, allenfalls würden wir einer außerordentlichen
Musik, als einem unerhörten Ereignis folgen. So erwarten wir die resurectio
mor-tuum correcta et relata, apocatastasis panton, nach einer unendlichen Kette
von Verarbeitungen, die ein zuverlässiges Meldesystem ermöglichen, dann aber
eher unter freiem Himmel. Dieses Gericht, Wiedervereinigung, enthält eine der
größten Ungerechtigkeiten, die ich je erlebte. Es eilen nämlich die, die einen
glücklichen Tod hatten, schneller zum Kreis, weil sie die Schritte noch wissen.
Die Unglücklich-Toten dagegen, die das schärfste Motiv besitzen, stoßen als
Verspätete hinzu und es ist nicht ausgeschlossen, daß das Gericht seine Sitzungen
schließt, ehe sie angelangt sind. Besser wäre, daß wir diesen Tag großer Verspätungen
gar nicht erst erlangen, wenn doch nichts anderes herausi tritt als die Erfahrung,
daß die Hoffnung besser war : als jedes Erreichte. Andererseits hört man, daß
jenes Jüngste Gericht aufzufassen ist als eine Folge
von Speisen. Was den Ort dieses Gastmahls betrifft, so beziehe ich mich
auf Berechnungen Galileo Galilei. Er berechnet nach Daten aus Dantes
göttlicher Komödie die Ränge der Vorhölle, den geräumigsten obersten mit 47
Meilen Umfang unterhalb Jerusalems. Man wird nicht umhin können, diese Halle
zu räumen. Beschlußfähig aber ist dieser Kreis m. E. nach Ankunft der Letzten;
und beginnen, in Selbstüberschätzung des Gottessohns, die Handlungen
früher, so verlassen die Angekommenen den Raum und die Richter, mit sich selbst
kontrahierend, haben nichts zu binden oder zu lösen, denn nichts, dem
Leben gegeben wurde, kann wieder zurückgenommen werden, auch
nicht durch den Stifter. Insofern ist das auffällige Zögern der
Obersten Gewalt, den Jüngsten Tag endlich anzusetzen
(immer wieder in Aussicht gestellt, verschoben), darauf zurückzuführen, daß
ein Element materieller Demokratie durch die vollständige
Versammlung der Letzten, nämlich der Unglücklich-Toten,
der kinematische Kernpunkt ist. Dies sind Zweifelsfragen, unter den Gliedern
noch strittig. -
Nach: Alexander Kluge, Die Patriotin. Texte/Bilder 1-6. Frankfurt am Main 1979
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