atzelwurm  Es war wieder windig geworden. Gelbliche Wolkenschwaden überzogen den Himmel. Der aufkommende Sturm pfiff singend, später heulend durch die Riffe, die rundherum den Kessel krönten. Lange warteten wir atemlos und herzbeklommen: kein Laut, kein Mucks. Plötzlich zischte ein feuriger Ball aus der Höhle und zerplatzte in einige rote Kugeln, die wiederum zerplatzten in viele blaue Sterne, und diese in Myriaden von grünen Funken, welche der Wind in hochornamentalen Spiralen nach oben trug: eine der Raketen der Jäger war offensichtlich in die verkehrte Richtung losgegangen.

Wieder ereignete sich eine Zeitlang nichts. Es wurde finster. Der Wind wirbelte Nebelfetzen in den Kessel. Dann - die Jäger hatten nun gelernt, die Raketen richtig zu handhaben - krachte und drohte es drinnen in der Höhle. Es muß ein ohrenbetäubender Lärm gewesen sein: ein Bündel Raketen, alle auf einmal in einem geschlossenen, vermutlich kuppelartigen Raum gezündet! Die Jäger stürzten auch sofort darauf aus der Höhle.

›Was isch?‹ riefen die heraußen Wartenden, ›was isch?‹

›Er kimp, er kimp!‹ schrien die beiden.

Und da war der Tatzelwurm auch schon! Ein Jäger stolperte über das Seil, weil man begonnen hatte, Mynheer Cuypers herüberzuziehen. Der Drache zeigte aber an Mynheer Cuypers kein Interesse. Er blies nur grüne Dämpfe in die Nebelfetzen. Ein sehr beherzter Jäger schoß dem Wurm mit dem Gewehr ins Auge - die Augen waren das einzige deutlich Sichtbare am Drachen, sonst erschien er nur groß, schwarz und unförmig in der Dämmerung und dem grünen Dunst. Das glühende Auge, auf das der Jäger gezielt hatte, blinzelte. Der Drache blieb einen Moment stehen. Herüben lief alles durcheinander.

›Schiaßt's!‹ brüllten die einen.

›Weck da driem!‹ schrien die anderen Burschen zu den Jägern hinüber.

Die beiden, die in die Höhle gestiegen waren, und die anderen, die vor der Höhle gewartet hatten, retteten sich so gut sie konnten herüber oder suchten hinter Felsbrocken und Schneewächten Deckung. Der besonders beherzte Jäger brannte dem Tatzelwurm noch einen Schuß ins Auge und lief dann ebenfalls weg. Der Drache - das eine Auge blinzelte jetzt stärker - öffnete sein Maul. Es war, als sähe man in eine Esse: gelbrote Glut dampfte grünlich und giftig, und eine zwiegespaltene Zunge von der Größe einer mittleren Fahne fuhr darin hin und her.

Und dann brüllte das Tier . . .

Tatzelwurm

Laut, sehr laut, laut und anhaltend, so daß nicht nur einer der Jäger, ein sonst gesunder, kräftiger Bursche, eine Bewußtseinsumgestaltung erfuhr - er glaubte in der Folge, der heilige Georg zu sein - und daß nicht nur fast alle anderen für die Zeit ihres restlichen Lebens unmusikalisch wurden: wir vermeinten von dem Gebrüll den Berg wackeln zu spüren, und - in der Tat, so wahr ich hier stehe - der Sturm wurde für einen Moment in eine andere Richtung gelenkt.

Dann sprang der Drache aus seiner Höhle heraus, mitten in den Kessel. Aus seinen Nüstern schnaubte er baumdicke Qualmringe. Das Auge blinzelte immer noch. Sein Schwanz peitschte hin und her und wirbelte den Schnee auf wie ein Orkan. Mynheer Cuypers wurde samt Seil und Winde hoch über die Zacken des Kessels geschleudert.

›Iatz!‹ hieß es.

Der beste Schütze unter den Jägern zielte mit verbissenem Gesicht, die Pfeife im Mund, ein Auge zugekniffen, das andere, an dem jetzt unser ganzes Heil hing, auch fast zugekniffen -tupfte das Geschütz ein wenig hin, ein wenig her, duckte den Kopf und riß plötzlich an der Abzugschnur. Der sonst beachtliche Knall schien uns, gegen das Gebrüll des Untiers, nicht lauter, als zöge man einen Stöpsel aus der Flasche.

Der Drache erstarrte.

Dann: langsam verdrehte das Tier die Augen, es schnaubte noch heftiger - jetzt allerdings rötlichen Dampf. Das eine Auge erlosch. Der rötliche Dampf war wohl die Form, in der ein Drache blutet, weil er wegen seiner hohen Körpertemperatur gasförmiges Blut hat.

Und - gottlob! - ohne noch einmal zu brüllen, drehte sich der Tatzelwurm um und fiel auf die Seite. Die Haubitzenkugel hatte ihn durchs Auge direkt ins Gehirn getroffen.

›Hin ischr, hin ischr!‹ schrien die Jägerburschen, aber niemand wagte sich an den sterbenden Drachen heran.

Es wurde heiß wie in einer Schmiede. Unter Brausen und Zischen entwich der Blutdampf des Drachen. Die Wunde weitete sich wohl durch den Dampfdruck von innen, und zum Schluß stand eine kirchturmhohe, rote Dampfsäule im Kessel, die der Wind ergriff und zerfetzte. Der Schnee schmolz in der Umgebung des toten Wurms, und wo er nicht schmolz, färbte er sich rot.

Als der Blutdampfstrahl endlich nachließ und nur noch stoßweise, wie bei einer Lokomotive, rote Wolken aus dem Leib des Untiers hervorzischten, begann der Kadaver bleischwarz zu qualmen. Bald hüllte der schwere Qualm das ganze Tier ein und blieb im Kessel sich wälzend und drehend hängen. Durch die Schwaden sah man hie und da das Verglühen des Tieres. - (ruin)

Tatzelwurm (2)

Tazelwurm nach Aldrovandi

 - Ulisse Aldrovandi, Monstrorum historia (1642)

Fabeltiere Jagd Wurm
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