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telepolis
Tarnkappe (2) Sowie
er das düstere Gebälk der Brücke überquert, beginnt er, energisch zu pfeifen
und seinen Gehstock durch die Luft zu wirbeln. Der Wind vom Fluß zaust
ihm die Perücke. Eine Möwe gleitet über ihn hinweg. „Aah! Ist doch herrlich,
das Leben!" denkt er und schreitet aus wie ein junger Lord auf dem
Weg zu einem Spielchen Crocket am Nachmittag. Doch als er das Ende der
Brücke erreicht, durchläuft er eine abrupte Verwandlung,
Es ist, als hätte der Gott der Spastiker ihn mit seinem Krüppelstab berührt:
Die Glieder verrenken sich, die Zunge hangt ihm schief aus dem Mund, der
Kopf fällt zur Seite. Plötzlich sinken die Schultern herab, er wird ganz
krumm, zieht ein Bein nach, als wäre es ein Stuck Fallholz — jetzt kommt
noch ein Tic im linken Auge dazu, und auf dem Rücken wölbt sich ein Buckel,
Ist es ein Anfall? Hat er Konvulsionen? Nervöse Zuckungen? Ned grinst zufrieden,
als Passanten beunruhigt einen großen Bogen um ihn machen. „Gah",
sagt er zu ihnen, kaut dabei auf seiner Zunge und streckt seine verstümmelte
Hand wie einen Ausweis hin. „Gah", sagt er und humpelt die Straße
hinauf wie ein Hund mit gebrochenem Rückgrat. All das ist natürlich Teil
eines Plans, der seine Entlarvung verhindern soll — er betrachtet diese
Prozedur gern als das „Aufsetzen der Tarnkappe". Die falsche Nase,
die Brille, die altmodischen Kleider, die Krämpfe und Zuckungen, der zittrige
Gang der Schüttellähmung - so ist er nichts als ein hasenschartiger Krüppel,
der Fischeier auf der Straße verhökert. Selbst der liebe Gott hätte ihn
beim Jüngsten Gericht in diesem Aufzug nicht erkannt. - T. Coraghessan
Boyle, Wassermusik. Reinbek bei Hamburg 1990
Tarnkappe (3) Enges Zusammenleben seit 570 Millionen Jahren zwischen Meeresschwämmen und Bakterien.
Meeresschwämme scheinen die Bakterien als »inneres Erbe« ihrer Urahnen mit sich zu tragen. Wilkinson fand die Bakterien an 296 Schwämmen im Mittelmeer, im Roten Meer, vor der britischen Südküste bei Plymouth und am Great-Barrier-Riff in Australien. Immunologisch enge Verwandtschaft zwischen Bakterienstämmen. Die Bakterien haben einen Vorfahren der Schwämme im Präkambrium besiedelt.
Die Schwämme nähren sich von Bakterien. Aus einem Bakteriengemisch filtern sie die Nichtsymbionten heraus. Nur diese verzehren sie. Die Schwämme unterscheiden mit einer Art Immunsystem zwischen eigenen und fremden Bakterien. Als wahrscheinlich gilt, daß die Mikroorganismen durch eine besondere Kapsel, die sie umhüllt, Schwämmen gegenüber ihre Bakreriennatur verbergen und somit nicht als Nahrung erkannt werden. Eine 570 Millionen Jahre alte Tarnkappe.
Das merkwürdigste, schreibt Wilkinson, ist aber, daß dieses Phänomen im Präkambrium offensichtlich an sechs verschiedenen Stellen der Erde entstanden ist, die untereinander keine Verbindung haben. Sechsmal wurde diese Tarnkappe entworfen. Mit minimalen Differenzen. Bringen wir nämlich Schwämme (was die Natur nicht vermag) in von Flugzeugen transportierten Tankbehältern vom Great-ßarrier-Riff nach Plymouth, so fressen die dortigen Schwämme auch die tarnkappengeschützten Bakterien aus den importierten australischen Schwämmen heraus.
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