Tante, junge  Eine wegstunde von Boston ein haus mit runder nummerntafel und der interessanten nummer elf, davor ein weißgestrichner holzzaun, über den bisweilen cremefarbne hirsche springen und rosaäugige einhörner.

Meine junge tante erzählt von autofahrern, die angst bekommen, weil sie plötzlich dinge sehen - nicht etwa hasenfüße, nein, durchwegs mit wind und wetter vertraute leute, männer in tweed und gutem schuhzeug.

Meine junge tante steht nackt im garten ihres hauses und sprengt mit einem gartenschlauch den glattgemähten rasen; ein mittelgroßes aviarium mit verschiedenen vögeln der alten sowie der neuen weit badet in der morgensonne.

Erreicht man die höchste stelle der schnurgerade nach westen führenden straße, dann erblickt man schon von weitem den kleinen besitz meiner jungen tante.

Das haus meiner jungen tante liegt nicht mitten im besitz, es befindet sich direkt an der straße, die schnurgerade nach westen führt; in den frühen abendstunden hört man hin und wieder das altmodische geklimper eines banjos.

Manche wiederkäuer lieben es, zwischen blumen zu äsen — ihr schatten verändert sich je nach der stunde des tages, jetzt verträumt, nun bizarr, jetzt furchterregend, nun rührend, je nach dem schein von sonne und mond.

Ich habe keinen onkel, meine junge tante ist ein lediges mädchen; sie zu fragen, warum sie keinen mann hat, wage ich nicht zu fragen.

Die wiederkäuer bewegen sich leiser als fallende strahlen, die gefangenen vögel schreien manchmal während der nacht wie verängstigte kinder.

Ich glaube nicht, daß meine junge tante einen wirbelsturm, der bäume umlegt und dächer abdeckt, im teetopf kochen kann; ich trank viele male tee in ihrer küche - es war gewöhnlicher tee.

Mit dem gartenschlauch in der hand, inmitten ihrer wiederkäuer, erscheint meine junge tante den nichtsahnenden autofahrern - sie meinen bei hellem tage zu träumen.

Gewiß, wirbelstürme entstehen in teekesseln, wütendes hageln in gewöhnlichen suppenterrinen, windhosen in whiskygläsern, landregen und überschwemmungen in ordinären milchkannen, dürre und trockenheiten in bratpfannen aus der guten alten zeit.

Setz dich doch, Allan, sagt meine junge tante zu mir, hier ist tee und selbstgemachtes jam; durch das große fenster fällt der diffuse schatten eines langen hornes, das teewasser im kessel über dem kaminfeuer blubbert, ein harter windstoß wirft die gartentür ins schloß.

Mein name ist außerordentlich leicht zu merken: Ich heiße Allan Baxter, und meine junge tante ist um einige jahre jünger als ich.

Dr. Olfert Dapper besteht darauf, im jahre 1673 in den wäldern von Maine ein wildes einhorn gesehen zu haben; es gibt reisende, die von meerfrauen, werwölfen, grillenköpfigen elfen und elfenköpfigen grillen zu berichten wissen.

Das selbstgemachte jam ist aus früchten, die ich nicht kenne, der tee ist gut, das brot ist frisch aus dem ofen; so vergehen die nachmittage mit meiner jungen tante.

Ich weiß, daß ich jede nacht träume, kann mich aber nach dem erwachen nie an meine träume erinnern; ich schlafe stets wie ein murmeltier, mich könnte das ärgste unwetter nicht aus meinem tiefen schlaf reißen.

Ich bin weder verheiratet noch habe ich eine geliebte, fühle mich aber geschlechtlich ausgeglichen wie ein glücklicher ehemann oder ein geliebter einer guten geliebten.

Ich wage es nicht, meine junge tante zu fragen, wie männliche einhörner ihren überschüssigen samen verlieren, wie cremefarbne männliche hirsche sanft wie fallende blätter der buche die brunft überstehen.

Ich wage es nicht, meine junge tante zu fragen, wie die namen der verschiedenen vögel des aviariums lauten, vögel mit traurigen augen, die mich irgendwie dauern, ohne daß ich wüßte warum und weshalb.

Vom gattertor des weißgestrichnen holzzaunes meiner jungen tante aus sieht man die höchste stelle der schnurgeraden nach osten führenden straße, auf der eben eine bis gen himmel reichende windhose tanzt; die autofahrer fahren erschrocken einen großen bogen über die wiese zu beiden Seiten der straße.

Ich habe ihnen noch vor kurzem meinen namen gesagt, nun aber kann ich mich nicht mehr entsinnen, wie ich heiße: Ich weiß nur, daß ich der um ein paar jähre ältere neffe meiner um ein paar jähre jüngeren jungen tante bin; sie steht nackt auf dem glattgemähten rasen ihres besitzes und ruft die sanften Wiederkäuer mit namen, die ich noch nie gehört habe und die ich auch sogleich wieder vergessen werde.

Ich erinnere mich, daß ich irgend einmal einen wagen besessen habe, einen de Soto, mit dem ich eine schnurgerade straße lang nach westen fuhr - das dürfte schon längere zeit her sein.   - H.C. Artmann, Unter der Bedeckung eines Hutes. Montagen und Sequenzen. Frankfurt am Main 1976 (st 337, zuerst 1974)

 

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