Tannenzweig  Die Unfähigkeit des Menschen, zu denken, hat sich in Jahrtausenden nicht geändert. Was denken wir also beispielsweise vom Tod? Als Beispiel für eine solche Frage den Menschen zu nehmen, ist ganz zwecklos. Man nehme statt dessen einen ganz kleinen Tannenzweig und stecke ihn an. Er brennt kurz und lustig. Es könnte eine Zweiggestalt übrig bleiben, nachdem die Flammen erloschen sind, aber diese Aschenzweige zerfallen in fast nichts - was ist dieser Tod des Zweiges?

Ich denke nicht, daß irgend jemand sich darüber eine befriedigende Auskunft geben kann. Da gibt es eine Menge verschiedener Erscheinungen, wie etwa die Tatsache, daß während des Verbrennens ein Wohlgeruch sich ausbreitet, der vielleicht noch am nächsten Tag, vielleicht noch länger im Raum bleibt. Die Dichte des Zweiges ist fraglos aufgelöst, er ist gewaltig ausgedehnt. Daß irgend etwas Wesentliches abhanden gekommen ist, dafür besteht keinerlei Anzeichen. Man muß sich ja auch überlegen, wie dieser Tannenzweig zustande gekommen war. Er ist aus kleinsten Teilen aus der Erde und der Luft zusammengebaut worden. Etwa mit dem Anfang, daß da ein kleiner Kern im Samen war, der die außerordentliche Fähigkeit hatte, Stoff anzuziehen. Diese Samenkerne haben sehr verschiedene Fähigkeiten, Stoff anzuziehen. Das eine Mal kann ein solcher Zweig in sehr kurzer Zeit im Frühling wachsen, das andere Mal kann er, irgendwo auf Berghöhen, Jahre zum Wachsen gebraucht haben. Man wird meinen, daß der Tannenzweig aus der gleichen Raumweite zusammengeschossen ist, wie er sich nun mit dem Feuer wieder ausbreitet. Vielleicht füllt er nur zehn Kubikmeter Luftraum, aber wenn man aus diesen zehn Kubikmetern durch Verdünnung tausend Kubikmeter macht, so kann es sein, daß vom Tannengeruch noch ein wenig wahrnehmbar ist. Dieser Geruch, zunächst eine nur menschliche Sinneswahrnehmung, ist also ein Konzentrat, das man noch viele Male verdünnen kann, und er wirkt noch immer auf uns Menschen. Wie er auf andere Wesen wirkt, das wissen wir nicht. Aber wenn dieser Tannenzweig im Wald selbst verbrannt wäre, so würde die luftlösliche Tanne und die erdlösliche Tanne wieder von einer draußen wachsenden Tanne aufgenommen, beide würden verbunden, und sie würden bald irgendwo erneut stehen. Diese Zerstreuung in eine undichte Form wäre ein ganz nebensächlicher Zustand, er würde mit Zerstörung nichts zu tun haben. Es wäre wie ein dichter Bienenschwarm in Beziehung zu einem undichten, auseinander geflogenen Schwärm, der sich auf mehr als tausend Kubikmeter Luft verteilt.

Mit dem Tod des Menschen wird es physikalisch nicht anders sein: Er wird sehr gelockert.   - Ernst Fuhrmann, Der Sinn des Todes. Nach (fuhr)

 

Zweig

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme