- Vladimir Nabokov, Tagesprogramm, 26.11.
bis 3.12.1967, nach (
enc
)
Tagesablauf (2) Ich stehe gegen elf Uhr auf, verlege aber das Rasieren auf später - denn es ist sehr langweilig. Frühstück, bestehend aus Tee, Gebäck, Butter und zwei Eiern, an geraden Tagen aus weichgekochten, an ungeraden Tagen aus hartgekochten. Nach dem Frühstück mache ich mich an die Arbeit und schreibe, bis die Lust, mit der Arbeit aufzuhören, die Unlust zum Rasieren in mir überwältigt. Ist dieser Wendepunkt in mir eingetreten, rasiere ich mich mit Vergnügen. Das Rasieren verlockt, in die Stadt zu gehen, ich gehe also ins Café Querandi, Ecke Moreno und Perù, zu einem Kaffee mit Hörnchen und der Lektüre von ›La Razon‹.
Ich kehre nach Hause zurück, um noch etwas zu arbeiten, aber diese Stunden
opfere ich der Lohnarbeit für die hiesige Presse, oder auch, mich vor meine
Remington setzend, erledige ich die Korrespondenz. Ich paffe dabei meine Dunhillpfeife
oder meine BBB Ultoni. Ich rauche den Tabak ›Hermes para pipa‹. Nach acht Uhr
gehe ich ins Restaurant ›Sorrento‹ zum Abendessen, und dann wechselt das Programm
je nach den Umständen. Die späte Nacht bestimme ich zum Lesen von Büchern, die
leider nicht immer so sind, wie ich sie haben möchte. - (
gom
)
Tagesablauf (3) Das große impedimentum
des Mannes, die Liebe und das Weib, ist auf den einfachsten Ausdruck reduziert.
Nichts von der Gefährtinnenschaft, die wir rund um uns sehen, nichts von der
Dirnchenhörigkeit und den Nachäffungen der Ehe, die die Karriere des Mannes
behindern, seine Gedanken beschäftigen, ihn von einem einzigen und beharrlichen
Willen ablenken: die Liebe nimmt uns wöchentlich fünf
Stunden, von sechs bis elf, und vorher und nachher keinerlei Gedanken.
- (
gon
)
Tagesablauf (4) Ich lebe nach einer Regel:
Ich erhebe mich Punkt 8 schliesse das Haus auf, heize mir ein und putze mir
die Schuhe. Ich wasche mich nach Schiffbrauch nur an »Tagen« also nicht Mittwoch
und nicht Sonnabend. Ich gehe dann an den Hafen und beobachte das Wetter. Ich
trinke Kaffee mit Gänsegrieben und arbeite bis V22. Dann esse ich Mittag. Fett!
Ich erwarte die Post um 1/4 3 und schlafe bis 4. Dann gehe ich an die Luft,
prüfe wie das Wetter sich hält wo die Sonne untergeht, wann der Leuchtturm brennt.
Ich arbeite bis 1/2 8. Dann esse ich meine Suppe und meine Wurst. Ich lese bis
11 z.B. Dickens. Dann gehe ich noch einmal auf die Mole und betrachte die Sterne.
Dann schlafe ich. Ich plätte meine Hosen unter der Matratze und lege meine Schnepfenpfeife
auf den Nachttisch gegen die Diebe. Jeden Dienstag gehe ich 6 Stunden nach Westen
ins Land. Jeden Freitag 10 Stunden nach Osten in den Wald. Nach Rostock fahre
ich jeden Vollmond auf die Bibliothek. Meine Aussicht geht nicht auf das Meer.
Meine Aussicht geht auf ein Schwein. Dieses Schwein lebt nur damit es dick stirbt.
Das gibt Blut- und Grützwurst, das macht Spass. Es ist ungewiss ob ich Weihnachten
nach Berlin kommen kann, denn wir schlachten das Schwein wahrscheinlich im Fest.
- Hans Jürgen von
der Wense, Von Aas bis Zylinder, Bd. I. Frankfurt am Main 2005
Tagesablauf (5) Churchills Tageslauf sah,
nach den Mitteilungen seines Dieners während des Kriegs, folgendermaßen aus:
Er frühstückte um 8.30 Uhr im Bett, in dem er bis gegen 13 Uhr liegenblieb und
schrieb. Dann nahm er ein Bad, das bis etwa 14 Uhr dauerte, häufig auch darüber
hinaus, so daß der Koch die Anweisung hatte, nur solche Speisen auf den Tisch
zu bringen, die sich längere Zeit warmhalten ließen. Meist hatten Mrs. Churchill
und die Gäste schon mit dem Essen begonnen, wenn er endlich den Speiseraum betrat.
Nach dem Essen ging er ein kurzes Stück auf dem eigenen Grundstück spazieren,
kehrte ins Bett zurück, schlief zwei Stunden, blieb bis 18 oder 19 Uhr im Bett,
um zu arbeiten, nahm wieder ein Bad, um dann etwa ab 21 Uhr beim Dinner anwesende
Gäste bis gegen Mitternacht zu unterhalten. Danach diktierte er bis 3 Uhr morgens
und fütterte anschließend die Fische im Aquarium, was eine halbe Stunde dauerte.
In den Räumen, in denen er sich aufhielt, mußten immer 25 Grad sein. -
Jürgen Manthey, In Deutschland und um Deutschland herum. Ein Glossar.
Frankfurt am Main 1995
Tagesablauf (6) So schwer mir das Aufwachen
fiel, so schwer fiel mir das Einschlafen. Ich war
noch nicht fertig mit dem Tag, wenn die Nacht übergriff. Ich war noch nicht
fertig mit der Nacht, wenn der Tag
aufkam. Eigentlich hetzte mich die Sonne.
- Martin Walser, Halbzeit. München/Zürich 1971 (zuerst 1960)
Tagesablauf (7)
Morgens verdingt er sich bei den Kindern am Buddelplatz. Mittags macht er seine Urwaldfreunde nach. Abends wird er immer sehr traurig. |
-
Günter Grass, Tageslauf eines dicken Mannes, nach: Kurt Böttcher, Johannes Mittenzwei, Zwiegespräch. Deutschsprachige
Schriftsteller als Maler und Zeichner. Leipzig 1980
Tagesablauf (8) Seine Lebensordnung in den
letzten sechs Jahren von 1816 bis 1822 war die. Am Montage und Donnerstage brachte
er die Vormittage in den Sitzungen des Kammergerichts, an den andern Tagen zu
Hause arbeitend, die Nachmittage in der Regel schlafend, im Sommer auch spazierengehend
zu; die Abende und Nächte in dem Weinhause. War er,
was häufig, in manchen Perioden täglich geschah, mittags oder abends oder mittags
und abends in Gesellschaft, — denn nicht aus aller Gesellschaft, bloß aus der
seiner Freunde und aus den feinern Tees war er geschieden; dagegen unter Männern
und bei Trinkgelagen immer ein willkommener Gast, — oft abends in zwei Zirkeln
von sieben bis neun und von neun bis zwölf gewesen; so ging er, es mochte so
spät sein, als es wollte, wenn alle anderen sich nach Hause begeben, noch in
das Weinhaus, um dort den Morgen zu erwarten; früher in seine Wohnung zurückzukehren,
war ihm nicht gut möglich. - E.T.A. Hoffmanns Leben und Nachlass. Von Julius Eduard Hitzig.
Frankfurt am Main 1986 (it 1986, zuerst ca. 1825)
Tagesablauf (9) Von 8 bis 2 oder 1/2
3 Bureau, bis 3 oder 1/2 4 Mittagessen, von da ab
Schlafen im Bett... bis 1/2
8, dann 10 Minuten Turnen, nackt bei offenem Fenster, dann eine
Stunde Spazierengehn allein oder mit Max oder mit
noch einem anderen Freund, dann Nachtmahl innerhalb der Familie... dann um 1/2 11...
Niedersetzen zum Schreiben und dabeibleiben je nach
Lust, Kraft und Glück
bis 1, 2, 3 Uhr, einmal auch schon bis 6 Uhr früh. - Franz
Kafka
Tagesablauf (10) Gräßliches Leben! Gräßliche
Stadt! Überblicken wir den Tag: Mehrere Schriftsteller
gesehen, von denen einer mich fragte, ob man nach Rußland auf dem Landwege reisen
könne (er hielt Rußland offenbar für eine Insel); edelmütig gegen den Herausgeber
einer Zeitschrift gestritten, der auf jeden Einwand erwiderte: »- Wir sind hier
die Partei der anständigen Leute«, was so viel sagen will, daß alle anderen
Zeitungen von Schurken herausgegeben werden; etwa zwanzig Personen gegrüßt,
von denen mir fünfzehn unbekannt sind; Händedrücke im glleichen Verhältnis ausgeteilt,
wobei ich die Vorsicht außer acht gelassen habe, mir vorher Handschuhe
zu kaufen; während eines Regengusses, um die Zeit tot zu schlagen, eine kleine
Tänzerin besucht, die mich bat, ihr ein Venustre-Kostüm
zu zeichnen; einem Theaterdirektor meine Aufwartung gemacht, der mich mit den
Worten verabschiedete: »Sie täten vielleicht gut daran, sich an Z... zu wenden;
er ist der schwerfälligste, dümmste und berühmteste von allen Autoren, die für
mich arbeiten; vielleicht könnten Sie mit ihm zu einer Vereinbarung kommen.
Suchen Sie ihn auf, und wir werden dann weiter sehen«; mich (warum nur?) mehrerer
erbärmlicher Handlungen gerühmt, die ich niemals begangen, und ein paar andere
Missetaten feige abgeleugnet, die ich mit Vergnügen vollführt habe, Vergehen
eitler Prahlerei, Verbrechen der Furcht vor dem Urteil der Welt; einem Freunde
einen leichten Dienst verweigert und einem richtigen Halunken eine schriftliche
Empfehlung gegeben. Herrgott! ist das nun alles? - Charles
Baudelaire, Der Spleen von Paris. In: C. B., Die Tänzerin Fanfarlo und Der Spleen von Paris. Zürich
1977 (detebe 20387)
Tagesablauf (11)
Tagesablauf (12) Er setzte sich schon um neun oder zehn Uhr morgens an die Arbeit, erhob sich, um zu frühstücken, und arbeitete dann weiter. Am Nachmittag schlief er oft eine Stunde oder zwei. Aber er wachte bis um drei oder vier Uhr in der Früh, und dann in der tiefen Ruhe der Nacht, in der Andacht seines weiten stillen Gemaches, das von zwei grünbeschirmten Lampen kaum erhellt war, gelang ihm das Beste seines Werks. Die Seeleute auf dem Fluß benutzten das Fenster des Herrn Gustave als Leuchtturm.
Es hatte sich im Land eine Art Legende um ihn gebildet. Man hielt ihn für einen guten Kerl, ein bißchen verrückt, der mit seinen seltsamen Anzügen die Augen und die Gehirne verblüffte.
Er hatte bei der Arbeit immer eine weite Hose an, die mit einer Seidenschnur
an den Gürtel gebunden war, und darüber einen ungeheuren Schlafrock, der bis
an die Erde reichte. Dieses Kleidungsstück, das er nicht aus Pose, sondern wegen
seiner bequemen Weite angenommen hatte, war aus braunem Tuch im Winter, im Sommer
aus leichtem weißem Stoff mit hellem Muster. Die Bürger von Rouen, die sonntags
zum Frühstück nach La Bouille fuhren, kehrten enttäuscht nach Hause zurück,
wenn sie nicht, vom Deck des Dampfers aus, diesen Sonderling Flaubert aufrecht
in seinem Fenster erblickt hatten. -
Guy de
Maupassant
, Gustave
Flaubert. Nach: G. F., Madame Bovary. Zürich 1967
Tagesablauf (13) Faitel hatte eine Menge
alter, erbgesessener Gewohnheiten, Ideenkreise, Scurrilitäten und Verschrobenheiten.
Wenn ich oft Abends mit ihm spazieren ging, überließ er sich gern seinem Nachdenken,
und - wollte er Religionsstunde recapitulieren, oder seine früheren Lehrer verspotten,
- er begann dann mit veränderter, mäckernder Rabbinerstimme sich selbst wie
folgt zu examiren: »Was duht Jehova zu Beginn des Dags?« - Dann antwortete sich
Faitel in seiner eigenen Stimme, aber mit einem frechen witzigen Accent: »»Er
stutiret im Gesätz!«« - (Wieder die erste Stimme:) »Was duht der hailige Gott
aber härnach ?« - (Zweite Stimme:) »»Härnach sitzt er und regiret die ganze
Walt?«« - »Was duht aber Jehova wiederum härnach?« - »»Hernach sitzet er und
ernähret die ganze Walt!«« - »Was duht er aber dann?« - »»Dann sitzet er und
copuliret die Männer und die Waiber«« ! - »Wie lang copulirt der hailige Gott
die Männer und die Waiber?« - »»Drei Stunden lang cupulirt er die Männer und
die Waiber!«« - »Was duht er dann am Nachmittag der hailige Jehovah?« - »»Am
Nachmittag duht er nichts, der Jehovah; er ruht aus!«« - »Waih geschrieen! Wie
haißt, er duht nichts der hailige Jehovah ? Wird er nichts duhn, der hailige
Jehovah ? Was wird er duhn ? Was duht der Jehovah am Nachmitdag - He?« - (Nun
schien eine entfernte spitzige Knabenstimme von der hintersten Schulbank zu
antworten.) »»Am Nachmitdag spielt der hailige Jehovah mit dem Leviathan!««
- »Nadierlich! (fiel jetzt die Stimme des Rabbiners ein) er spielt mit dem Leviathan!«
- Oskar Panizza,
Der operirte Jud. In: Ders., Der Korsettenfritz. Geschichten. München 1981
(zuerst ca. 1905)
Tagesablauf (14) Den Sommer 1829 verbrachte
Puschkin auf dem Lande. Er stand früh auf, trank eine
Kanne frisch gemolkene Milch und lief zum Fluß baden. Nach dem Baden legte er
sich ins Gras und schlief bis zum Mittagessen. Nach
dem Mittagessen schlief Puschkin in der Hängematte
weiter. Begegneten ihm stinkende Bauern,
so nickte Puschkin zum Gruß und hielt sich dabei mit den Fingern die Nase zu.
Die stinkenden Bauern zogen die Mütze und sagten: »Macht doch nix.« - (
charms
)
Tagesablauf (15) . . . Der letzte Winter
ist für mich eine harte Zeit mit der Kreuzhacke gewesen; und hier meine winterliche
Lebensweise: ich stehe um 10 Uhr auf, ich stürze eine Tasse Kaffee hinunter,
dann seziere ich bis 5 Uhr, wo ich mittelmäßig zu Abend esse; von 6 — 7 schwarzer
Kaffee öfters zweimal als einmal, Zeitungen (ich bin Republikaner wie ein Pferd)
oder irgendeine Entspannung; um 7, 8, 9 Uhr mache ich mich wieder ans Werk bis
um 2 — 7 Uhr morgens. Es ist doch das Mindeste, daß ich in den Gedächtnistempel
steige. Als Beruhigungsmittel mache ich großen Gebrauch von Bier; als Aufputschmittel
von Kaffee, Tee und Opium. Letzteres habe ich mir zur Gewohnheit gemacht während
der häuslichen Quälereien, denen ich seit zwei Jahren ausgesetzt bin: ohne diese
Droge hätte ich das Leben sicherlich nicht ausgehalten. - (
lim
)
Tagesablauf (16) Zu den ersten
Dingen, die Watt lernte, gehörte die Tatsache, daß Mr. Knott manchmal spät aufstand
und früh zu Bett ging, und manchmal sehr spät aufstand und sehr spät zu Bett
ging, und manchmal weder aufstand noch zu Bett ging, denn kann zu Bett gehen,
wer nicht aufgestanden ist? Was Watt hier interessierte, war die Tatsache, daß,
je früher Mr. Knott aufstand, er um so später zu Bett ging, und daß, je später
er aufstand, er um so früher zu Bett ging. Aber zwischen dem Zeitpunkt seines
Aufstehens und dem seines Zubettgehens schien es keine konstante Wechselbeziehung
zu geben, es sei denn eine so abstruse, daß es sie nicht gab, für Watt. Lange
Zeit war dies eine Ursache großer Verwunderung für Watt, denn er sagte, hier
ist einer, der anscheinend einerseits zögert, seinen Zustand zu verändern, und
den es andererseits dazu drängt. Denn montags, dienstags und freitags stand
er um elf auf und ging um sieben zu Bett, und mittwochs und samstags stand er
um neun auf und ging um acht zu Bett, und sonntags stand er weder auf noch ging
er zu Bett. Bis Watt begriff, daß es zwischen dem aufgestandenen Mr. Knott und
dem zu Bett gegangenen Mr. Knott sozusagen keinen Unterschied gab. Denn sein
Aufstehen war kein Wechsel vom Zustand des Schlafens in den des Wachens, und
sein Zubettgehen war keiner vom Zustand des Wachens in den des Schlafens, sondern
sein Aufstehen und sein Zubettgehen waren Wechsel von einem Zustand,
der weder einer des Schlafens noch einer des Wachens war, in einen
Zustand, der weder einer des Wachens noch einer des Schlafens war. Selbst von
Mr. Knott konnte man schwerlich erwarten, daß er Tag und Nacht in der gleichen
Lage blieb. -
(wat)
Tagesablauf (17)
Tagesablauf (18) Unter den Tieren Garden Citys
gibt es zwei graue Kater, die immer zusammen stecken
- magere, schmutzige Streuner mit sonderbaren
und schlauen Gewohnheiten. Die Hauptzeremonie ihres Tagesablaufs vollzieht sich
in der Abenddämmerung. Zunächst trotten sie dann die Main Street hinunter und
untersuchen genau die Kühlergrills der geparkten Autos, besonders derjenigen,
die vor den Hotels Windsor und Warren abgestellt sind, denn an diesen gewöhnlich
von weither gekommener Wagen finden die knochigen, methodisch vorgehenden Tiere
meist das, worauf sie aus sind: getötete Vögel - Krähen, Meisen und Spatzen,
die töricht genug waren, den herankommenden Autos in den Weg zu fliegen. Mit
ihren Krallen klauben sie wie mit chirurgischen Instrumenten das zerfetzte Flügelvieh
aus den Kühlergrills. Nachdem sie die Main Street nach Beute abgesucht haben,
biegen sie regelmäßig bei Main und Grant um die Ecke und trotten zum Gerichtsplatz,
der auch zu ihren Jagdgriinden gehört. - (cap)
Tagesablauf (19) Ich kann meine Diagnose mühelos selbst stellen. Ich bin alt, das ist meine Hauptkrankheit. Nur noch zu Hause, in meinem täglichen Trott, fühle ich mich wohl. Ich stehe auf, trinke einen Kaffee, mache eine halbe Stunde lang Übungen. Ich wasche mich, trinke noch einen Kaffee und esse ein bißchen. Dann ist es halb zehn oder zehn Uhr. Ich mache einen kurzen Spaziergang um den Häuserblock, und dann langweile ich mich bis zum Mittag. Meine Augen haben nachgelassen, lesen kann ich nur noch mit einer Lupe und einer Speziallampe, die mich rasch ermüden. Seit langem hindert meine Taubheit mich daran, Musik zu hören. Also warte ich, denke nach und erinnere mich, und eine verrückte Ungeduld läßt mich immer wieder auf die Uhr sehen.
Zwölf Uhr ist die geheiligte Stunde des Apéritifs, den ich ganz langsam in meinem Arbeitszimmer einnehme. Nach dem Mittagessen döse ich bis drei Uhr ein wenig in meinem Sessel. Drei bis fünf ist die Zeit, in der ich mich am meisten langweile. Ich lese ein paar Zeilen, beantworte einen Brief, nehme Dinge in die Hand. Ab fünf werden meine Blicke auf die Uhr immer häufiger: Wie lange ist es noch bis sechs Uhr, bis zum zweiten Apéritif? Manchmal bemogele ich mich um eine Viertelstunde. Zuweilen besuchen mich ab fünf Uhr Freunde, und wir reden. Um sieben das Abendessen mit meiner Frau, dann früh zu Bett.
Wegen meiner Augen, wegen meines Gehörs, wegen meiner Abneigung gegen Verkehr und Menschenmassen bin ich seit vier Jahren nicht mehr im Kino gewesen, und ich sehe nie fern.
Manchmal vergeht eine ganze Woche, ohne daß ich einen einzigen Besuch bekomme. Ich fühle mich verlassen. Dann kommt jemand, den ich nicht erwartet habe, den ich eine Weile nicht gesehen habe. Und am nächsten Tag kommen vier, fünf Freunde auf einmal mich besuchen und bleiben eine Stunde. Zum Beispiel Luis Alcoriza, der früher als Drehbuchautor mit mir gearbeitet hat. Und Juan Ibánez, unser bester Theaterregisseur, der zu jeder Tageszeit Cognac trinken kann. Und auch Pater Julián, ein moderner Dominikaner, der ein ausgezeichneter Maler und Graveur ist und zwei ausgefallene Filme gemacht hat. Öfter haben wir uns über den Glauben und die Existenz Gottes unterhalten. Da er bei mir auf einen unerschütterlichen Atheismus stößt, hat er einmal gesagt:
„Ehe ich Sie kannte, spürte ich meinen Glauben manchmal wanken. Seit wir miteinander reden, ist er wieder völlig gestärkt."
Das gleiche kann ich von meinem Unglauben sagen.
Aber wenn Prévert und Péret mich in der
Gesellschaft eines Dominikaners sähen ... - Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am
Main 1985
Tagesablauf (20) Des Morgens stand er drei Stunden vor ihr auf. Er hätte diese stillste Zeit zum Arbeiten verwenden können. Das tat er auch, aber was er früher unter Arbeit verstand, war weit weggerückt und auf eine bessere Zukunft verschoben. Er sammelte die Kräfte, deren er zur Ausübung seiner Kunst bedurfte. Ohne Muße keine Kunst. Unmittelbar nach dem Schlaf erzielt man selten vollendete Leistungen. Man muß sich auflockern; frei und unbefangen trete man an seine Schöpfung heran. So verbrachte Kien beinahe drei Stunden in Muße vor seinem Schreibtisch. Er ließ sich mancherlei durch den Kopf gehen, doch wachte er darüber, daß es ihn nicht allzusehr von seinem Gegenstand entferne. Dann, wenn der Uhrzeiger in seinem Hirn (dieser letzte Rest eines gelehrten Netzes über der Zeit) Lärm schlug, weil es gegen neun ging, begann er langsam zu erstarren. Er spürte, wie die Kälte sich durch seinen Körper verbreitete, und schätzte sie nach ihrer gleichmäßigen Verteilung ab. Es gab Tage, da die linke Leibeshälfte rascher erkaltete als die rechte; das versetzte ihn in ernstliche Unruhe. »Hinüber!« befahl er, und Ströme von Wärme, von der rechten entsandt, machten den Fehler auf der linken gut. Seine Fertigkeit im Erstarren steigerte sich von Tag zu Tag. Sobald er den steinernen Zustand erreicht hatte, prüfte er die Härte des Materials, indem er mit den Schenkeln einen leichten Druck gegen den Stuhlboden ausübte. Diese Härteprobe dauerte nur wenige Sekunden, ein längerer Druck hätte den Stuhl zermalmt. Als er später für dessen Schicksal fürchtete, verwandelte er auch ihn zu Stein. Ein Sturz tagsüber, in Gegenwart der Frau, hätte die Starrheit zu Lächerlichkeit erniedrigt und bitter geschmerzt. Granit ist schwer. Auch wurde die Probe durch eine verläßliche Empfindung für den Härtegrad nach und nach überflüssig.
Von neun Uhr vormittags bis sieben Uhr abends verharrte Kien in seiner unvergleichlichen
Stellung. Auf dem Schreibtisch lag ein aufgeschlagenes Buch, immer dasselbe.
Er würdigte es keines Blickes. Seine Augen waren ausschließlich in der Ferne
beschäftigt. Die Frau brachte soviel Klugheit auf, ihn während seiner Darbietung
nie zu stören. Sie bewegte sich eifrig im Zimmer. Er begriff, wie sehr das Wirtschaften
ihr zur zweiten Natur geworden war und unterdrückte ein unpassendes Lächeln.
Um die monumentale Figur aus dem alten Ägypten machte sie einen weiten Bogen.
Sie bot ihr weder Essen noch Beschimpfungen an. Kien verbat sich Hunger und
andere leibliche Beschwerden. Um sieben jagte er Wärme und Odem durch den Stein,
der sich rasch belebte. Er wartete, bis Therese in der entferntesten Ecke des
Zimmers war. Für ihren Abstand hatte er ein untrügliches Gefühl. Dann sprang
er auf und verließ schnell das Haus. Während er im Gasthaus sein einziges Mahl
zu sich nahm, schlief er vor Ermüdung beinahe ein. Er verbreitete sich über
die Schwierigkeiten des verflossenen Tages und nickte, wenn ihm ein guter Einfall
für morgen kam, zustimmend mit dem Kopf. Jeden, der es sich zutraue, ihm die
Statue nachzumachen, forderte er zum Wettbewerb heraus. Niemand meldete sich.
Um neun lag er zu Bett und schlief. - Elias Canetti, Die Blendung.
Frankfurt am Main 2007 (zuerst 1935)
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