urrealismus Der
Surrealismus ist die Systematisierung der Konfusion. Der
Surrealismus schafft scheinbar eine Ordnung, aber nur so, daß die
Idee eines Systems selbst verdächtig wird in der Assoziation. Der
Surrealismus ist destruktiv, aber er zerstört nur, was er als
Ketten betrachtet, die unsere Vision einschränken.
- Salvador Dalí, nach: Hans Richter, Dada - Kunst und Antikunst.
Köln 1964
Surrealismus (2) Heute
gilt der Surrealismus nicht länger als modern und in fast jeder Dorfpfarrei
und Mädchenschule hängen surrealistische Bilder an den Wänden. Sogar der Buckkingham-Palast
hat eine große Reproduktion von Magrittes berühmter Schinkenscheibe,
aus der ein Auge hervorlugt. Sie hängt, glaube ich, im
Thronsaal. In der Tat, die Zeiten ändern sich. Die Royal Academy veranstaltete
kürzlich eine Retrospektive von Dada, und man dekorierte
die Galerie wie eine öffentliche Bedürfnisanstalt.
Zu meiner Zeit wären die Londoner schockiert gewesen. Heutzutage eröffnet der
Bürgermeister von London die Ausstellung mit einer langen Rede über die Meister
des zwanzigsten Jahrhunderts, und die Königinmutter hängt einen Gladiolenkranz
um eine Skulptur von Hans Arp mit dem Titel ›Nabel‹.
- (
hoer
)
Surrealismus (3) Dieses
Laster, genannt Surrealismus, besteht in dem unmäßigen und leidenschaftlichen
Gebrauch des Rauschgiftes Bild oder vielmehr
in der unkontrollierten Beschwörung des Bildes
um seiner selbst willen und auf daß es im Darstellungsbereich unvorhersehbare
Umwälzungen und Metamorphosen bewirkt: denn jedes Bild zwingt euch immer
wieder von neuem das ganze Universum zu revidieren. Und jeder Mensch ist
aufgefordert, ein Bild zu finden, das das ganze Universum abschafft. Ihr,
die ihr das orangefarbene Schimmern dieses Abgrundes ahnt, beeilt euch
und nähert eure Lippen diesem frischen und zugleich glühendheißen Kelch.
Schon bald, morgen schon wird das dunkle Verlangen nach Sicherheit, das
die Menschen verbindet, ihnen rauhe Prohibitiv-gesetze diktieren. Die Propagandisten
des Surrealismus werden gerädert und gehängt, die Bildertrinker in Spiegelkabinette
gesperrt werden. Die verfolgten Surrealisten werden ihr Bildergift dann
in den Tingeltangel-Lokalen an den Mann bringen. An ihrem Gebaren, ihren
Reflexbewegungen und an verräterischen Zeichen plötzlicher Nervosität wird
die Polizei beobachtete Gäste erkennen und des Surrealismus verdächtigen.
Ich sehe schon ihre Spitzel, ihre Schliche und ihre Hinterhalte. Einmal
mehr wird dem Einzelnen das Recht auf Selbstbestimmung streitig gemacht
und aberkannt werden. Man wird sich auf die Gefahr für die Öffentlichkeit
berufen, auf das Gemeinwohl, die Erhaltung der ganzen Menschheit. Große
Empörung wird die ehrbaren Leute packen gegen dieses unhaltbare Treiben,
diese um sich greifende Anarchie, die jeden seinem gewöhnlichen Schicksal
entreißen will, um ihm ein persönliches Paradies zu schaffen, und man wird
nicht zögern, solch eine Verirrung des Denkens als intellektuellen Malthusianismus
zu bezeichnen. Welch herrliche Verheerungen: Das Nützlichkeitsprinzip wird
allen, die diesem höheren Laster frönen, fremd werden. Der Geist wird bei
ihnen allmählich außer Gebrauch kommen. Sie werden sehen, wie ihre Grenzen
sich erweitern, sie werden alle Schwärmer und alle Unzufriedenen dieser
Erde an ihrem Rausch teilhaben lassen. Die jungen Leute werden diesem ernsten
und nutzlosen Spiel völlig verfallen. Es wird ihr Leben ändern. Die Universitäten
werden leer sein. Man wird die Laboratorien schließen. Es wird weder eine
Armee mehr geben noch Familie noch Berufe. Angesichts dieser wachsenden
Abneigung gegen das Gesellschaftsleben werden sich alle dogmatischen und
realistischen Kräfte der Welt gegen das Phantom der Illusionen verschwören.
Und sie werden siegen, diese verbündeten Mächte des Warum und des Trotzdem
leben. Es wird der letzte Kreuzzug für den Geist sein. Für diese von vornherein
verlorene Schlacht werbe ich euch heute also an, abenteuerliche und ernste
Herzen, die ihr ums Siegen wenig bekümmert seid und in der Nacht nur einen
Abgrund sucht, um euch hineinzustürzen. Vorwärts, die Liste liegt aus.
- (ara)
Surrealismus (4) ist
durchschaute, anerkannte, hingenommene und dann nutzbar gemachte Inspiration.
Ihm ist Inspiration keine unerklärliche Heimsuchung mehr, sondern ein natürliches
Vermögen des Menschen, das sich ausüben läßt. Normalerweise hat die Inspiration
ihre Grenze an der Ermüdung des Individuums. In Stärke und umfang schwankt sie
entsprechend den Kräften und Fähigkeiten des jeweiligen Menschen. Nicht alles,
was aus ihr kommt, ist gleich wertvoll ... Die Grundgedanken eines surrealistischen
Textes mögen z. B. höchst bedeutsam sein; dann ist er wertvoll und stellt so
etwas wie eine Offenbarung dar. Ein anderer praktiziert
gleichfalls die surrealistische Methode, gibt aber nur hanebüchenen Blödsinn
von sich. Dann bleibt sein Geschreibe Blödsinn, auch wenn er es surrealistisch
hervorgebracht hat. Einfach Blödsinn. Da gibt es keine Ausrede. -
Louis Aragon, nach: Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus. Reinbek bei
Hamburg 1986 (rde 437)
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