Sumpftheologie  Wenn man den Sumpf als geheiligtes Land verstehen oder phantasieren soll, dann muß das objektiv geschehen; d. h. seine Heiligung muß ex opere operato sein und darf nicht nach Pilgern und Theologien fragen, er muß also in gleicher Weise heilig sein, wie nicht unmöglich ist, daß Sträucher und leere Muschelschalen und mit magi­schen Kräften versehene Blasen existieren, die vielleicht auf spezifische Götter anspielen, vielleicht gerade auf jenen Sphinkter, von dem die Rede war. Ist es nicht letztlich wahr, daß der Sumpf eine Alternative zum Nichts ist, und daß wir nicht wissen, ob abgesehen vom Sumpf noch etwas anderes existiert? Und ist deshalb der Sumpf als Form des Seins als Sein nicht unausweichlich ein geweihter Ort, wie seit jeher und auf ewig, auch ohne die geringste Form von Leben, zumal es um die Alternative zwischen dem Sein und dem Nichts und nicht etwa um jene nebensächliche Alternative zwischen Leben und Nichtleben geht? Und obwohl auch ich - nicht anders als die Würmer und die Raupen - dazu neige anzunehmen, daß meine Existenz ein Zeichen der Güte ist, und daß der Sumpf mir gehört, bin ich mir wohl bewußt, daß der Sumpf meine Anwesenheit gar nicht braucht, nicht nur um Sumpf zu sein, sondern um geheiligtes Land zu sein. Aber wenn keinerlei Form von Wallfahrt als institutionell und dem Sumpf wesenseigen vorgesehen ist, dann bleibt noch zu fragen, ob - und wenn ja, in welcher Weise - der Sumpf sich seiner selbst bewußt ist, und ob er sich heilig weiß, wenn er es ist, und ob er erschaffen ist - der Sphinkter - oder unerschaffen; und wenn unerschaffen - Sumpf ab aeterno und auf ewig -, ob dann nicht er es ist, der einen Sphinkter produziert, aus dem Willen heraus, sich selbst eine Legende zu geben, so daß der Sphinkter im selben Augenblick erschaffen wäre, in dem der Sumpf beschlossen hätte, sich als Exkrement, excretum universale, Weltskybalon vorzuschlagen.

Die Erschaffung eines Pseudoschöpfers setzt beim Sumpf eine Macht und eine gewichtige theologische Aggressivität voraus, aber der Sumpf ist mild, der Sumpf ist leise - wer hat je einen Schrei auf den wäßrigen Ebenen des Sumpfs gehört? - der Sumpf errötet leicht - das ist natürlich nur eine Redensart - der Sumpf trägt die Haare zum Zopf geflochten, wie früher üblich - ich spreche gern in Metaphern - der Sumpf kleidet sich schlicht, liebt hausgemachte Süßspeisen und wünscht sich - man hat noch nie davon gehört, aber es könnte ja sein - eine Familie mit Kindern, aber - um dieses Delirium fortzusetzen - ich muß zugeben, daß es keineswegs ausgeschlossen ist, daß dem Sumpf - diesem milden, diskreten, ausweichenden Sumpf - der nur scheinbar schroffe Titel einer Hure gebührt. Haben wir nicht gesagt, daß der Sumpf der wehrlose Wohnsitz der Laster ist, daß er selbst nicht lasterhaft ist, aber die Idee der Verderbtheit darstellt, in jedem Sinne, und auch die Sinne in jedem Sinne? Ist der Sumpf nicht der Friede der Zersetzung, die sich beständig wieder zusammensetzt, um sich unendlich neu zu zersetzen? Ist der Sumpf nicht das geschmackvolle Bordell, diskret und traditionell, wo man unweigerlich allen Göttern nacheinander begegnet, den erschaffenen und den unerschaffenen, angefangen vom Sphinkter?  - Giorgio Manganelli, Der endgültige Sumpf. Berlin 1993 (zuerst 1991)

Sumpf Theologie

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