Sumpfode  O verderbter, inzestuöser, masochistischer, perverser, exhibitionistischer Sumpf - o, du meine alte Freundin - du wechselfiebriger, paralytischer, blutflüssiger, wassersüchtiger, verwirrter, paranoischer, unheilbarer, verkommener Sumpf: wärest du nur ausreichend ansteckend! Genügte es nur, dich als Bordell zu besuchen, um sich mit wäßrigen Bla­sen, stinkenden Pusteln zu bedecken; genügte es nur, sich neben dich zu legen, um mit eitrigem Schorf und wurmfräßigem Sand bedeckt davonzugehen und endlich Sumpf zu sein! Statt dessen geschieht dieses: daß du, der du als hochgradig abstoßender und faszinierender Ort vor uns liegst, du, der du unser Schmerz, unsere Hoffnung, Abscheu und Verliebtheit bist, nichts in dich aufnimmst, was du nicht selbst schon bist; und uns bleibt nichts anderes übrig, als unsere entsetzensvolle Liebe zu dir aufzuschreiben, aber wir dürfen wie gesagt nicht hoffen, daß du uns erlaubst, uns mit dir zu infizieren; wir können nicht - wie sehr wir es auch wünschen — der Sumpf werden; wir können dich nur verfolgen, o geheimnisvolles, schweigsames Vaterland, Bordell, Friedhof, propaginatio nostra. Wir wissen, daß es nutzlos ist, sich kopfüber in deine Gräben zu stürzen, denn du verzehrst die Leichen, machst sie zunichte, außer wenn es einem Toten gelingt, dir zu beweisen, daß er seit jeher tot ist, daß er ein Ewigkeitsgenosse des Sumpfs ist, und somit auch ein Merkmal des Sumpfs, nicht wahr? Aber die Toten, die durch Studium und Wettbewerbe tot sind, werden nicht von dir geachtet, du erkennst sie nicht an, du magst sie nicht, sie interessieren dich nicht, sie sind nur verdorbene Lebende, und vielleicht stimmt es, was man von dir sagt: daß du einen gewissen Ekel vor den Lebenden empfindest, auch den verwesten, und daß du die Lebenden als verrottet und verfault betrachtest, wie plumpe Versuche einer Imitation. Vielleicht ist es nicht unbegründet anzunehmen, daß auch du einen schwierigen Charakter hast, hochfahrend und geringschätzig. Du siehst, wie schwer es ist, dich nicht als historische Figur zu benützen, wie es bereits geschehen ist, und auch wie schwer es ist, keine anthropomorphen Bilder und Gebräuche auf dich anzuwenden und einen Charakter und bestimmte Gesten, Ideen und Vorlieben in dir zu argwöhnen, und im Grunde waren auch jene Laster, die ich bei dir zu erkennen glaubte, nur anthropomorphe Tricks, denn du bist der Inbegriff der Verschweigung, und es ist unmöglich, dir eine andere Stimme zuzuerkennen als die der Stille, und in Wirklichkeit hast du weder zu mir noch zu anderen irgendeine Beziehung; wir aber versuchen mühselig - was bleibt uns auch anderes übrig - eine Beziehung zu dir zu finden, der du so nah zu sein scheinst, so zugänglich, so widerstandslos, sperrangelweit offenes Haus, und der du in Wirklichkeit so entschlossen auf deinen stillen, vielleicht ironischen Ausflüchten beharrst. - Giorgio Manganelli, Der endgültige Sumpf. Berlin 1993 (zuerst 1991)
 
 

Sumpf Ode

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme