Sumpfbewohner  Geheiligtes Land also, wahrscheinlich, nicht  mehr als mutmaßlich, unbedacht; von Formen des Lebens durchlaufen, die leicht zu zerfleischen sind, ohne kosmische Garantien, ohne Himmelsadvokaten, ausgeliefert der Zerfleischung durch andere, was nur das Fehlen jeder Bestätigung ausgleicht. Formen des Lebens schließlich, die, dem Sumpf eingeboren, vom Sumpf nichts wissen und vermutlich noch nie von irgendeinem Sumpf gehört haben. Pilger, wie gesagt; doch gerade die Eintönigkeit der Verwandlung nimmt jeder Richtung jedweden Sinn; die raupinisch sprechenden Raupen mit ihren Fiberköfferchen und den winzigen heiligen Büchern - »Der Freund der pilgernden Raupe«, »Die Glaubensirrtümer bei den Würmern« - machen sich geduldig auf den Weg zu einer märchenhaften Pfütze, die sie in ihren Raupenmythen als Läuterungsbecken betrachten, das nur für sie bestimmt ist, da die Raupen aus mannigfachen Anzeichen zu wissen glauben, daß ein außerordentlich gütiger Gott sie für eine endgültige Läuterung ausersehen hat; und währenddessen stellen sich die Würmer, die offen gestanden eine Menge literarisch nicht immer würdige Dialekte sprechen, geduldig in eine Kolonne mit ihren Pilgersäcken, in die sie die frommen Bücher gesteckt haben, denen sie vertrauen - »Das Geheimnis der wurmischen Wallfahrt« und »Die Raupen - ein Irrtum der Schöpfung?« - denn die Würmer wissen, daß ein gütiger Gott den Würmern hilft und nicht etwa den Raupen mit ihren unmoralischen Ansichten über Gebetsstunden und sexuelle Gebräuche; nun sind die Würmer unterwegs zu einer Düne, die in ihren winzigen und wahrhaft kurzsichtigen Augen - auch wenn ein bebrillter Wurm sie anführt - als der Berg der Erleuchtung erscheint. Sie sind der Meinung - und dabei stützen sie sich auf zahlreiche Zitate aus ihren Büchern -, daß dieser Berg seit jeher für sie reserviert ist, denn die Würmer - Lieblinge ihres Gottes - sind die einzigen, denen eine erschöpfende Erleuchtung anvertraut werden kann. Aber man weiß ja, wie der Sumpf sich verhält: kaum haben die Raupen ihre VerSammlung vor Beginn ihres Marschs beendet, während die Würmer noch nicht fertig sind mit dem Appell, da ist die Pfütze auch schon ausgetrocknet und die Düne abgeflacht, und es ist nicht unmöglich, daß die Würmer an einem gewissen Punkt ihrer Reise auf eine Pfütze stoßen, die noch nicht da war, als sie sich auf den Weg gemacht haben, und daß die Raupen plötzlich eine Düne erklimmen, von der sich in ihren Büchern auf den ersten Blick keinerlei Hinweis findet; aber -da sind sie sich ganz sicher - ihre Gelehrten werden ein Zitat finden, das geeignet ist, die Verwandlung der Pfütze in eine Düne zu rechtfertigen, und entsprechend verhalten sich die Würmer; und vielleicht werden dann die Würmer die Geläuterten sein, während den Raupen die Erleuchtung zuteil wird, obwohl weder die einen noch die anderen für eine so wichtige Erfahrung angemessen vorbereitet sind. Man muß auch bedenken, daß es unzählige Volksstämme bei den Raupen und Würmern gibt, und nicht alle mit derselben Theologie; dann muß man noch die Stämme der Schmetterlinge dazurechnen -jene grauen, schwarzgefleckten, fuchsroten Falter -, auch sie in weitere Stämme unterteilt; und es ist zwar wahrscheinlich, daß die Schmetterlinge als fliegende Tiere über ein weniger ungenaues Bild vom Sumpf verfügen, aber kein Schmetterling, kein Stamm kann etwas von den Verwandlungen wissen, und ihr Flug wird in jedem Fall ratlos sein; es wird also auf den wäßrigen Schienen des wandelbaren Sumpfs ein Verkehr stattfinden, der für alle diejenigen unverständlich bleibt, die einerseits nichts von der Berufung dieser Tiere zur Rettung wissen und andererseits das unschuldig ausweichende Wesen des Sumpfs nicht kennen.   - Giorgio Manganelli, Der endgültige Sumpf. Berlin 1993 (zuerst 1991)
 
 

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