üdseeparadies »Ich kam auf eine sehr kleine Insel. Es war eine sehr schöne grüne Insel. Sie war sehr vollkommen, weil sie viele Landschaftselemente, die des Menschen Herz erfreuen, vereinigte. Gegen Süden wurde sie sehr niedrig und glitt mit einem Sandstrand ins Meer. Im Norden aber befand sich ein Berg, nicht übermäßig hoch, aus schönem grünschwarzen Basalt. Dem Berge vorgelagert war eine lehmreiche, nur leicht gewellte Hochebene, auf dem Untergrund eines Tuffgesteines gebettet. Es brach aus einem Felsspalt eine Quelle hervor, ein Strahl, zwei Finger stark. Über das Hochland war, vortretend und zurückspringend, verstreut, wie kleine Eilande, ein niedriger Wald. Dazwischen Ödflächen mit Farnen bestanden. Mit Melastonengebüsch. Mit blauen Lilien und blauen Disteln. Mit rosablühenden Orchideen. Mit einzelnen schlangenhaft sparrigen Bäumen, mit dünnem Bambus, mit lila und weißem Löwenmaul. An der Küste, wo das Meerwasser die Insel umspülte, wucherten die Manglewälder aus dem Schlamm hervor mit den gespreizten Wurzeln und Stelzen. Es wohnten etwa dreißig Menschen auf der Insel. Braune tätaulerte Männer und schöne Frauen. Sie waren nur mit einem Schurz bekleidet. Der der Männer war aus schlechtem englischen Kattun. Der der Frauen war noch handgearbeitet aus Bast und Pflanzenfasern. Die Kinder gingen nackend wie im Mutterschoß.« Perrudja stöhnte wieder leise vor sich hin. Sein Herz war eine pumpende Qualle, ein Polyp, der ihn aussog, auffraß mit der Sehnsucht nach dem Paradies.
»Es war zu erkennen, eine erste Wandlung zum Schlimmen hatte auch diese kleine
Insel heimgesucht. In der Ferne auf einer größeren, in einem weißen Hause, wohnte
ein Gouverneur, ein Europäer, die Polizei und Gelehrsamkeit eines europäischen
Staates. Und er hatte befohlen, die Bevölkerung sei mit einer Kopfsteuer von
sieben Schilling jährlich zu belegen. Zehn blanke goldene Sovereigns müßten
in die Kasse des großen Reiches gelegt werden. Der Statthalter des großen Reiches
wollte nicht verstehen, daß das Land der kleinen Insel ihren Göttern, den Göttern
der dreißig Menschen zu eigen war. In Europa war kein Land irgendwelchen Göttern
zu eigen. In den Staaten der weißen Menschen gab es Besitzende und Sklaven.
So mußten die dreißig sich gefallen lassen, daß an ihr Gestade eine Art Erdbewohner
kamen, von Zeit zu Zeit, die ihnen zuwider war. Walfänger, Trepanghändler, Schildpattaufkäufer.
Daß sie Handel trieben. Denn nur der Handel vermochte die zehn Sovereigns, die
Kopfsteuer zu erzeugen. Es gab schon fünf Bastardkinder am Strand. Sie waren
nicht Kinder der Liebe, sondern vergewaltigter Jungfrauen. Aber diese Menschen
waren so gütig, sie hatten sie nicht bei der Geburt ermordet. Sie waren auch
gegen mich nachsichtig, der ich doch von der Gestalt ihrer Feinde war. Da ich
ihre jungen Weiber nicht mißbrauchte, begannen sie mich zu lieben und mir Vertrauen
zu schenken. Ich muß gestehen, sie wurden, weil sie mir vertrauten, von einer
süßen Trägheit befallen. Sie sammelten kein Schildpatt, fischten nicht Trepang.
Sie waren sorglos darüber, wie die Sovereigns aufkommen sollten. Sie glaubten
an mich und unterstellten, ich würde das Geld herbeizaubern. Oder ich vermöchte,
den Gouverneur von der Meinung, sie wären gute Menschen, zu überzeugen. Ich
hatte mir vorgenommen, sie nicht zu enttäuschen. Gab es auch nichts zu handeln,
es kam doch ein kleines Schiff an den Strand. Ein sehr kleines und abwrackreifes,
wie sie zwischen den Inseln zu verkehren pflegen. Das Schiff fuhr wieder fort;
aber ein Matrose blieb anland. Und er begann zu wüten wie ein Besessener. Schon
nach vierzehn Tagen hatte er die Hälfte aller Weiber beschlafen. Er hatte nicht
einmal die Kinder geschont. Da hatte sich nicht nur die Kraft seiner Lenden
breitgemacht, auch eine Krankheit. Die Männer kamen in einen Zustand hilfloser
Verzweiflung. Die Frauen weinten und schrieen. Ich sah das Ende des Paradieses.
Der Häuptling sandte mir als Geschenk ein junges Mädchen, das noch nicht beschlafen
war, und ließ mich als Gegengabe bitten, dem Rat der Männer beizuwohnen. Ich
versuchte, so gut ich es vermochte, den Unwissenden zu erklären, welcher Zusammenhang
zwischen der Krankheit und dem Matrosen bestände. Da waren auch schon eingeborene
Männer an die Kette des Verderbens angeschlossen. Wie von selbst geschah es,
daß die noch Gesunden von den Kranken getrennt wurden. Die nicht Befallenen
flohen vom Strand auf die Hochebene, auf den Berg. Trauernd beschlossen sie
ein erstes Verbrechen. Es kam ein Zorn in ihnen auf. Sie erinnerten sich an
eine Vorzeit. Sie sprachen Silben aus, die schon unendlich fern von ihnen gewesen
waren. Worte, die keinen Sinn hatten, nur einen Klang, eine magische Kraft.
Sie begannen Feuer zu entzünden. Sie tanzten. Sie heulten. Ihre Leiber gingen
auf. Jeder einzelne Muskel an ihnen begann zu zittern und zu schlagen wie eine
Fahne. Es war, als ob Schlangen an ihrer Haut emporkröchen. Oder sie in Fetzen
von ihnen fiele. Ich verstand nichts der Meinung; aber ich wußte, es war das
Zeichen des Geschehens, das sehr groß und sehr götternahe war. Am nächsten Morgen
stürmten sie hinab zum Strand, zu den Wohnungen. Vor ihnen her ging ein Atem,
eine unsichtbare Flut. Die Gewalt Ihres Willens. Aus den Hütten heraus drängte
er die Kranken, die Überfälligen. Sie liefen zusammen. Sie fühlten sich fortgestoßen.
Sie stürzten sich ins Meer. Sie schwammen hinaus. Der Matrose kroch aus einer
Hütte hervor. Er schien nicht zu begreifen, was vorging. Da traf ihn ein Speer
in die Brust. Er sank um. Man schleifte ihn zum Wasser. Und er trieb fort.«
- Hans Henny Jahnn, Perrudja.
Frankfurt am Main 1966 (zuerst 1929)
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