tuhl
"Ein göttlicher Arsch
war das Urbild des Stuhls" — so viel verraten uns die Ausgrabungen
der Archäologen. Der Mensch ist das einzige Lebewesen
auf unserem Planeten, das die Gewohnheit des Sitzens
entwickelt hat: die Füße fest auf dem Boden, der Oberkörper aufrecht, das
Gesäß erhöht. Was lag näher, als dieser Haltung,
die den Menschen vom Tier unterscheidet, einen göttlichen Ursprung
zuzuschreiben. Der Heilige Stuhl, der Thron oder
das Chorgestühl — in der Vergangenheit war das
Sitzen Priestern und Königen
vorbehalten, heute gilt Sitzen als Zivilisationskrankheit, an der Menschen
sogar sterben. - lanf, in: SZ vom 17. März
2003 (Literaturbeilage)
Stuhl (2)
Stuhl (3) "Szekesfekete" oder, wie es im Argot fälschlich heißt: 'feketeszek' ist der ungarische Ausdruck für "schwarzer Stuhl". Er bedeutet: Du stirbst im Sitzen, oder: Laß dich nicht überraschen. - Im Deutschen ist durch Veränderungen und Verballhornungen aus dem ungarischen Wort 'die große Wende' geworden, ein ungerechtfertigt optimistisches Bild vom Tod, das wahrscheinlich auf einem Wortspiel beruht, denn 'halal' heißt auf ungarisch 'der Tod', 'halad' aber 'Fortschritte machen'.
Die Toten werden in dieser Gegend sitzend begraben, und unser Ausdruck bezieht sich auf die hiesige Variante der Hockergräberkultur. Die Grabstätten werden gemeinhin "Gespan-Stühle", "Bürgermeistergräben" genannt. Der Einfluß der Juden, die hier zeitweise sehr mächtig werden konnten, weil man sie schonte, ist in dieser Bestattungsform unverkennbar.
- Jüdischen Ursprungs dürfte auch das Sprichwort: "Mehr der Lüge, mehr vom Wahren" sein, und vielleicht ist es dieser überaus liberalen und klugen Überzeugung zu verdanken, daß uns von unzähligen Redensarten zwei Leseweisen überliefert sind, deren Aussagen sich nicht selten gegenseitig aufheben. - 'Noch unverändert' lautet die nachzutragende zweite Eindeutschung von "szekesfekete".
Niemand Vernünftiger, und schon gar nicht der Bieresch, der von sich selbst oft in der dritten Person spricht und sich als "Heißes unter der Asche" bezeichnet, erwartet vom Tod eine Veränderung. Man spricht nicht einmal vom Tod, und in den unzähligen Schriften über das Leben gibt es nicht eine einzige Aussage, die sich auf ihn bezöge, um ihn zu erklären, ausgenommen jene, die dem Anochi Gikatilla zugeschrieben wird, der gesagt haben soll, der Tod sei "das Anführungszeichen, das die direkte Rede beschließt".
- Unerklärlich bleibt also in der Tat, wie es zu den besagten (ebenso ungültigen wie unausrottbaren) Übertragungen kommen konnte, denn zweifellos sind sowohl 'die große Wende' als auch 'noch unverändert' Bilder, die dem unausschöpflichen Schatz metaphorischer Aussagen über das Leben entnommen sind. - "Das Leben ist ein Fädchen, das rennt", sagt eine Spruchweisheit, "in immer gleichen Verschlingungen" ('die große Wende') und immer gleichen Entknotungen ('noch unverändert').
"Der Hund kehrt zum Erbrochenen zurück", sagen die Histrionen, und: "Die Augen sind wie die Hunde". - Auch diese Redensarten, auf das Leben, von dessen Abscheulickeiten sich das Auge in mörderischem Heimweh nicht abwenden kann, gemünzt, werden mit dem Tod in Verbindung gebracht.
Die Augen sind wie Hunde.- "Kehrt zurück" ist ein unter den Bieresch gängiger Gruß, der leider nur auf deutsch erhalten geblieben ist, weshalb auch nicht entschieden werden kann, ob er eine Aufforderung darstellt oder eine Feststellung oder beides zur gleichen Zeit. - Manche sehen in ihm die Feststellung und quittieren mit ihm die Grußformel "wer zwinkert"; andere glauben seinem Aufforderunscharakter und danken mit 'noch unverändert', sobald jemand "kehrt zurück" sagt.
Man glaubt in dieser Gegend, daß jeder Mensch zweimal stirbt und daß der
eigentliche Tod derjenige ist, der mit und unter dem Schließen der Augen kommt.
"Ein Augenblick", sagt man, das heißt: einmal leben und zweimal sterben,
- und lachend droht man den kleinen Kindern: "Wer zwinkert, stirbt!"
und zwinkert. Und alle lachen und zwinkern dazu. -
Klaus
Hoffer
, in: manuskripte 55, S. 10 - 11, 1977
Stuhl (4)
"Der kleine Stuhl Napoleons III."
- Hans Bellmer, nach: Wieland Schmied, Zweihundert Jahre
phantastische Malerei. München 1980
Stuhl (5)
Heute nacht, als ich, mit der Taschenlampe in der Hand durch einen der
sogenannten Säle oder Gänge ging, in denen es kein elektrisches Licht gibt,
machte ein alter Stuhl einen plötzlichen Ruck, ähnlich wie ein Esel (auf dem
Land), wenn er dich herankommen läßt, dich dabei aber mit schrägem Blick aus
seinen göttlichen Augen (oder denen einer Gottheit) aufmerksam beobachtet und
dann plötzlich die Beine in den Boden stemmt, die hinteren, als Drohung und
aus Angst (das Schaf dagegen macht es mit den vorderen oder einem davon). Ich
dachte, es sei vielleicht eine Maus vom Stuhl gesprungen und habe dadurch diese
Bewegung verursacht, doch in Wirklichkeit waren der Stuhl und der Fußboden darum
herum von meiner Lampe voll erleuchtet, und ich habe nichts bemerkt: Vielleicht
hielt er sich nur auf drei Beinen in der Schwebe, und das Vibrieren des Fußbodens
hat ihn plötzlich aus dem Gleichgewicht gebracht, ja, das ist die einzig mögliche
Erklärung. Aber warum hätte er dafür ausgerechnet diese Nacht abwarten sollen?
- (
land3
)
Stuhl (6)
-
Quelle
Stuhl (7)
Stuhl (8)
- Fabrizio Clerici
Stuhl (9)
- N.N.
Stuhl (10)
Stuhl (11)
Im zehnten Buch seiner Politeia versuchte Platon
seine Idee über die Ideen mit Stühlen zu demonstrieren.
Den Stuhl gibt es in dreifacher Weise: als Idee, als Möbel und als Nachahmung.
Der Stuhl ist als Idee ewig, sein Sein ist vollkommen, er ist von Gott »gemacht«,
wie er sich ausdrückt, und als Idee nur einmal möglich, weil »eine (abstrakte)
ideelle Einheit allemal bei jeder Art von Vielheiten« angenommen werden muß.
Gäbe es zwei Stühle als Idee, ließen sich diese wieder auf einen einzigen Stuhl
als Idee zurückführen. Gott macht eine Idee nur einmal. Dagegen kommt der Stuhl
als Möbelstück nicht nur als »Vielheit«, sondern auch in verschiedenen Variationen
vor, als Schemel, Hocker, Polsterstuhl usw. Diesen Stühlen liegt die ideelle
Einheit ihrer konkreten Vielheit zugrunde, der Stuhl als abstrakte Idee; aber
die konkreten Stühle halten nicht ewig, auf einem antiken Holzstuhl zu sitzen
ist mit Risiken verbunden, falls dieses uralte Möbel heute noch vorhanden wäre;
das Sein der Stühle ist vergänglich und daher unvollkommen, die Stühle, auf
denen wir sitzen, sind nicht von Gott gemacht, sondern von Menschen. Was nun
die nachgeahmten Stühle angeht, so meint Platon damit die Stühle in der Malerei.
Der Maler stellt nicht wie Gott einen ideellen ewigen oder wie der Schreiner
einen vergänglichen Stuhl dar, sondern er ahmt nur nach, und zwar nicht einmal
das Sein des Stuhles, sondern bloß dessen Schein; Es bleibt ihm auch nichts
anderes übrig, denn das Sein eines Stuhles, wenn auch ein unvollkommenes, kann
nur der hervorbringen, der auch einen Stuhl herstellt. Der Maler benötigt dieses
Wissen nicht, er kann einen Stuhl zeichnen, ohne ihn herstellen zu können. Das
Bild des Malers nimmt, im Gegensatz zum Stuhl des Schreiners, nicht am Sein,
sondern nur am Schein des Stuhles teil. So stellt der Maler etwa einen entfernteren
Stuhl kleiner als einen näheren dar, während jemand, der den Stuhl ausmißt,
dieser Täuschung nicht verfällt, die Maße geben das Wesen des Stuhles wieder,
nicht dessen Schein. Der Maler ist ein »Nachahmer drei Grade vom Sein entfernt«.
Diese Argumentation bereitet uns erhebliche Schwierigkeiten. Wir sind durchaus
fähig, Hinfalle für Stühle zu haben, aber geraten in Verlegenheit, wenn wir
aus all diesen Einfällen für Stühle den Stuhl als abstrakte Idee, als Urbild,
als Urstuhl zu finden versuchen. Hat dieser nun eine Rückenlehne oder nicht
und, falls er eine aufweist, besitzt er Armlehnen? Hat er vier oder drei oder
gar nur ein Bein, womit der Urstuhl so etwas wie ein abstrakter Melkstuhl wäre?
Braucht der Urstuhl überhaupt Beine, ist nicht schon ein Baumstumpf fast ein
Urstuhl? Oder suchen wir in der falschen Richtung? Ist das Urbild des Stuhles
bei den erhabensten Stühlen zu suchen, bei den Thronsesseln? Oder bei den praktischsten,
den Nachtstühlen, ja sogar bei den beweglichsten, den Rollstühlen, oder bei
einem Stuhl, der zugleich Thron, Nachtstuhl und Rollstuhl ist? Ist es ein Irrtum,
den Urstuhl überhaupt unter den Stühlen zu suchen? Ist das Urbild des Stuhles
als etwas Abstraktes bei der Funktion des Stuhles zu vermuten, die im »bequemer
Sitzen« besteht, ja, weil dieses »bequemer« schon eine Ausweitung der Möglichkeit
bedeutet, überhaupt zu sitzen, ist der Urstuhl nicht schon im Sitzen als Idee
vorhanden? Weil sich jedoch etwas setzen muß, um sitzen zu können, und weil
dieses Etwas, um sitzen zu können, auch etwas besitzen muß, womit es sitzen
kann, geht es Platon mit seinem Urstuhl, worauf er sitzen, wie mir mit meinem
Publikum, das ich anreden möchte: Jener zieht sich in ihn und dieses in mich
zurück, ich brauche nicht ausführlicher zu werden. Wir sind beide gescheitert.
- Friedrich Dürrenmatt, Kunst und Wissenschaft oder Platon
oder Einfall, Vision und Idee usf. In: F. D., Versuche. Zürich 1991
Stuhl (12)
ein Stuhl liegt weggeworfen rechts hinter dem Baum, die Lehne abgebrochen,
der Drahtschutz nur ein Z, kein Viereck, vielleicht ein früher Versuch der Befestigung,
welche Last hat den Stuhl zerbrochen, den andern unfest gemacht, ein Mord vielleicht,
oder ein wilder Geschlechtsakt, oder beides in einem, der Mann auf dem Stuhl,
die Frau über ihm, sein Glied in ihrer Scheide, die Frau noch beschwert vom
Gewicht der Graberde, aus der sie sich herausgearbeitet hat, um den Mann zu
besuchen, des Grundwassers, von dem ihr Fellmantel trieft, ihre Bewegung ein
sanftes Schaukeln zuerst, dann ein zunehmend heftiges Reiten, bis der Orgasmus
den Rücken des Mannes gegen die Stuhllehne drückt, die krachend nachgibt, den
Rücken der Frau gegen die Kante des Tisches, das Weinglas umstürzend, der mit
Früchten beschwerte Pokal kommt ins Rutschen und, wenn die Frau sich nach vorn
wirft, ihre Arme den Mann umklammern, seine Arme unter dem Fellmantel sie, er
sich in ihrem, sie sich in seinem Hals verbeißt, mit dem Tisch knapp vor dem
Rand wieder zum Stehn, oder die Frau auf dem Stuhl, der Mann hinter ihr stehend,
seine Hände Daumen an Daumen um ihren Hals gelegt, wie im Spiel zuerst, nur
die Mittelfinger berühren sich, dann, wenn die Frau sich gegen die Stuhllehne
bäumt, ihre Fingernägel in seine Armmuskeln krallt, ihre Hals- und Stirnadern
hervortreten, ihr Kopf sich mit Blut füllt, das Gesicht blaurot einfärbend,
ihre Beine zuckend gegen die Tischplatte schlagen, das Weinglas stürzt um, der
Pokal kommt ins Rutschen, schließt der Würger den Kreis, Daumen an Daumen, Finger
an Finger, bis die Hände der Frau von seinen Armen herabfallen und das leise
Knacken des Kehlkopfes oder der Halswirbel das Ende der Arbeit anzeigt, vielleicht
gibt unter dem wieder toten Gewicht jetzt, wenn der Mann seine Hände zurücknimmt,
die Stuhllehne nach oder die Frau fällt nach vorn, mit dem blauroten Gesicht
auf das Weinglas, aus dem die dunkle Flüssigkeit, Wein oder Blut, ihren Weg
in den Boden sucht, oder rührt der ausgefranste Schatten am Hals der Frau unter
dem Kinn von einem Messerschnitt her, die Fransen getrocknetes Blut aus der
halsbreiten Wunde, schwarz mit verkrustetem Blut auch die Haarsträhnen rechts
vom Gesicht, Spur des linkshändigen Mörders auf der Türschwelle, sein Messer
schreibt von rechts nach links, er wird es wieder brauchen, es bauscht seinen
Jak-kenstoff, wenn das zerbrochene Glas sich zusammensetzt aus den Scherben
und die Frau an den Tisch tritt, am Hals keine Narbe, oder wird es die Frau
sein, der durstige Engel, der dem Vogel die Kehle aufbeißt und sein Blut aus
dem offenen Hals in das Glas gießt, die Nahrung der Toten - Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: H. M., Shakespeare
Factory 1. Berlin 1985
Stuhl (13) Graf Korzybski der General Semantics abfaßte pflegte seine Vorlesung damit zu beginnen üaB er auf einen stuhl zeigte und sagte ..Was immer das ist es ist kein Stuhl."
Das heißt dai objekt stuhl ist nicht die* gesprochene oder geiehriebene
Bezeichnung stuhl. Er iah die Verwirrung zwischen Bezeichnung und objekt dem
„ist der identität" als grundlegende schwache stelle im westlichen denken
an diese schwache stelle wird bewußt erhalten durch die proktiker der meinungskontrolle.
Sie werden in den subventionierten zeitschriften eine eigenartige prosa ohne
bilder (images) finden. Wenn ich das wort „stuhl" sage sehen sie einen
stuhl. Wenn ich „die gleichzeitigkeit von gesellschaftlicher trägheit und ambivolentem
schmutz unerkannten totalitären Systems" sage sehen sie nichts. Es ist
bloße abfassung von wörtern um die leser auf wörter reagieren zu lassen. So
„abgerichtete" werden vorhersehbar auf Wörter reagieren. Die so beschaffene
abrichtung ist undurchlässig für tatsachen. - William S. Burroughs, Akademie
23 - Eine Entwöhnung. Nach: Acid. Neue amerikanische Szene. Hg. Rolf
Dieter Brinkmann, Ralf-Rainer Rygulla. Frankfurt am Main 1978 (zuerst 1969)
Stuhl (14)
DER STUHL Der Stuhl war umgefallen. Sobald der Stuhl wieder aufgestellt war, Jetzt war ich an der Reihe. (1955) |
- Sugawara Katsumi, nach
(frach)
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