tufen   Plotin führt den Gedanken der Weltwerdung des Einen so weiter, daß er einen nicht zeitlichen, sondern nur als paradox zu verstehenden ewigen Prozeß annimmt. Dieser vollzieht sich in Stufen, in deren Folge die Vollkommenheit immer mehr abnimmt. Die erste Stufe ist das Eine als solches und so, wie es rein in sich selber ist. Der Prozeß nun kommt dadurch in Gang, daß das Eine sich selber erblickt. Dadurch entsteht die zweite Stufe, der Geist und die in ihm enthaltene geistige Welt, die Welt der Ideen. Diese beiden, eng miteinander verbunden, sind Abbilder des Einen, aber sie verlieren dessen Reinheit. Denn nicht nur trägt die geistige Welt die Fülle der Ideen in sich, auch der Geist ist als das Gesamt aller Einzelgeister eine Vielheit; zudem liegt schon in der Scheidung von Geist und Ideenwelt eine Zweiheit. Die dritte Stufe kommt dadurch zustande, daß der Geist hinabblickt; dadurch entsteht die Weltseele. Sie befaßt eine große Mannigfaltigkeit in sich, sofern ihre Teile die einzelnen Seelen sind. Die Weltseele nun, noch immer dem ewigen Bereich angehörig, blickt ihrerseits hinab und läßt dadurch den Kosmos, die endliche Sinnenwelt, die Welt der Dinge in ihrer ungeheuren Mannigfaltigkeit entstehen. Das ist die vierte Stufe.

Wegen ihrer Herkunft aus der Weltseele ist die Welt schön und vollkommen, wie Plotin insbesondere gegenüber der christlichen Weltverachtung betont. Doch durch den Hinzutritt der Materie wird diese Schönheit und Vollkommenheit beeinträchtigt. Aber was ist nun die Materie für Plotin? Nicht ein gegengöttliches, selbständiges Prinzip, wie in einigen Strömungen der gleichzeitigen Gnosis; auch ist sie nicht, wie in der christlichen Schöpfungslehre, aus nichts geschaffen. Sie ist vielmehr gleichsam der äußerste Horizont alles Hinabblickens, die fernste Grenze, die die Weltseele sich selber setzt, vergleichbar der Art, wie das Licht die Finsternis als seine Grenze bildet.

Betrachtet man nun das Gesamt der Stufen, dann zeigt sich: Die ganze Wirklichkeit, auf den Ebenen des Geistes, der Seele, wie der sinnlichen Dinge, ist für Plotin eine einzige Entfaltung des Einen; sie existiert nur, sofern sie in je verschiedener Vollkommenheit dessen Abbild ist. So kommt es zu einer völligen Gotthaftigkeit der Welt; alles, was ist, ist in der Gottheit befaßt.

Doch wie bestimmt Plotin die Stellung des Menschen in diesem Prozeß der Weltwerdung des Einen? Er antwortet, indem er einen Weg beschreibt, den die Seele einschlagen kann und einschlagen soll. Den Ausgangspunkt bildet die Tatsache des Verfalls der Seele. Sie, die ursprünglich dem ewigen Bereich angehört, hat am Hinabblicken der Weltseele Anteil. Sie kann sich vermöge ihrer Freiheit in diesen Anblick verlieren, kann sich dem Leibe hingeben und dadurch ihren Ursprung vergessen. Das ist sogar das gewöhnliche alltägliche Dasein des Menschen; er treibt sich im weltlichen Tun herum. Aber auch darin bleibt der Seele, wie allem Weltlichen, die Sehnsucht nach dem Einen, die aus der Erinnerung an ihre Herkunft erwächst. »Da die Seele aus Gott stammt, verlangt sie mit Notwendigkeit nach diesem.« Dadurch wird sie veranlaßt, sich aus ihrer weltlichen Verstrickung zu lösen, »das Kleid auszuziehen, das sie beim Abstieg angetan hat«, und die Rückkehr in ihren Ursprung anzutreten. Sie wendet sich zunächst zu sich selber als ewiger und am Ende zur Gottheit, zum Einen. Das aber ist eben der Weg des Philosophierens.

Auch die Rückkehr vollzieht sich, wie die Herabkunft, in vier Stufen. Die erste besteht darin, daß sich der Mensch vom individuellen Daseinsgenuß abwendet und sich den Tugenden des Miteinander, der Tapferkeit, der Gerechtigkeit, der Besonnenheit, der Weisheit zukehrt. Auf der zweiten Stufe kommt es zu einer völligen Abwendung vom Sinnlichen, von allen Leidenschaften und Trieben; hier reinigt sich die Seele, zieht sich auf sich selber zurück und gelangt dadurch auf die Ebene des Übersinnlichen, auf der sie ursprünglich beheimatet ist. Die dritte Stufe bringt den Aufstieg vom bloß Seelischen des Ich zu dessen geistigem Wesen; hier entspringt die theoretische, die philosophische Existenz, die ihre Freude an der Schau der Ideen hat. Die vierte Stufe schließlich besteht darin, daß man alles einzelne, selbst die Ideen, fahren läßt, daß man aus der Welt entrückt wird, daß das Wissen von sich selbst erlischt, daß man »in das Unbetretbare der Seele« gelangt; hier wird es dann möglich, daß der Mensch und die Gottheit wahrhaft eines werden.

Diese vierte Stufe bringt das entscheidende Geschehnis: daß wir »an allem, was nicht Gott ist, vorübergehend mit unserem reinen Selbst jenes Obere rein erblicken, ungetrübt, einfach, lauter«. - Wilhelm Weischedel, die philosophische Hintertreppe. München 1986 (dtv 1119, zuerst 1966)

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