Stündchen, letztes   Ridolfi lag in seiner Hängematte und sah sich schon als tot an und wartete auf sein letztes Stündchen. In solchen Augenblicken zog sein ganzes Leben noch einmal durch seinen Kopf, von dem Moment an, wie er als Kind seiner Mutter unter den Rock guckte; und seine Mutter, die eine ruhige Frau war, nähte weiter und fragte ihn: »Was schaust denn da unten an, armer Kleiner?« Dann kam ihm wieder in den Sinn, wie er ein hochgeschossener Junge war, der viele Bücher las, den aber inzwischen eine andere große Unruhe gepackt hatte, und das heißt, er war wild auf jede beliebige Frau, die er sah, egal ob alt oder jung. Dann kam ihm in den Sinn, wie er später, schon größer, schon ein kräftiger junger Mann, aber noch nicht blind auf einem Auge, angefangen hatte, seine Gelüste nach allen Seiten hin auszutoben, mit den verschiedensten Frauen im Dorf, auch mit den Ehefrauen der Männer in der Kneipe, wobei er heimlich in die Häuser schlich, während die Männer in der Kneipe waren. Und schließlich kam ihm in den Sinn, wie er später schon als Erwachsener angefangen hatte, von allem enttäuscht zu sein, das heißt von allem, was er sah oder was er tat. Noch dazu war er eines Nachts voller Gier, ins Bett einer verheirateten Frau zu kommen, die außerdem eine sehr nahe Verwandte von ihm war, in der Dunkelheit gegen ein rundes Eisenstück gestoßen, das aus einer Mauer hervorstand, und hatte auf diese Weise ein Auge verloren. Und danach hatten die wilden Rasereien begonnen, so daß er ab und zu die Möbel kurz und klein schlagen und das Bildnis seines Vaters herunterreißen mußte, um mit den Füßen darauf zu stampfen. Da weinte dann seine Mutter und sagte: »Warum tust du das? Was hat dir denn dein armer Papa getan, er war doch ein so guter Mann?« Auf diese Weise war sein Leben vergangen, nichts zustande gebracht, viele Gelüste und viel Herzklopfen, viele Bücher gelesen und insbesondere einen Philosophen namens Spinoza studiert, der machte ihn oft grimmig. Dieser Spinoza sagte, man müsse die Gelüste durch die Erkenntnis überwinden, das heißt aufhören, hinter den Vorstellungen herzurennen, aus denen die Gelüste entstehen. »Schon recht, aber wer schafft so was?« fragte sich Ridolfi. Und die totale Enttäuschung, die er seit dem Ende seiner Jugend im Leib hatte: »Ich habe die totale Enttäuschung, bin enttäuscht von allem«, sagte er oft zu Cevenini, »das war mein Elendslager.«    - Gianni Celati, Cevenini und Ridolfi. In: G. C., Cinema naturale. Berlin 2001
 
 

Stunde Ende

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme
Todesstunde