truldbrug   Zwar wollten wenige Menschen ihren Wunsch eingestehen, bei so harten Bedingungen unsterblich zu bleiben; er habe jedoch in den beiden vorher erwähnten Königreichen Balnibarbi und Japan die Beobachtung gemacht, daß jeder Mensch wünsche, seinen Tod noch etwas länger hinauszuschieben, wäre sein Leben auch noch so weit vorgerückt. Er habe noch nie gehört, ein Mensch sei gern gestorben, ausgenommen in der Pein des höchsten Grades von Gram und Körperqual. Er berufe sich auf mich, ob ich nicht in den von mir bereisten Ländern und in meinem Vaterlande dieselbe allgemeine Neigung vorgefunden habe.

Nach dieser Vorrede gab mir der Herr einen besonderen Bericht über die Struldbrugs im Lande. Er sagte: Jene Menschen handelten wie gewöhnliche Sterbliche bis zum dreißigsten Lebensjahre; hierauf würden sie jedoch allmählich melancholisch und niedergeschlagen, und diese Stimmung steige bis zum achtzigsten Jahre. Er habe dies durch ihr eigenes Geständnis erfahren; sonst würde er sich kein allgemeines Urteil haben bilden können, da nur zwei oder drei dieser Gattung in einem Menschenalter geboren würden und somit die Zahl der Struldbrugs sehr gering sei. Gelangten sie nun zum achtzigsten Jahre, welches sonst als äußerster Lebenspunkt in diesem Lande angenommen werde, so zeigten sie nicht allein die Torheiten und Schwächen anderer Greise, sondern noch eine weit größere Anzahl, welche durch die furchtbare Aussicht, niemals zu sterben, bewirkt würden. Sie wären nicht allein eigensinnig, hölzern, habgierig, mürrisch, eitel und geschwätzig, sondern auch der Freundschaft unfähig und für jede Neigung erstorben, welche nie über ihre Enkel hinausgehe. Neid und ohnmächtige Begierde seien ihre überwiegenden Leidenschaften. Das aber, um was sie am allermeisten neidisch wären, sei das Lasterleben der jüngeren Generation und das Sterben der Alten. Gedächten sie ihrer früheren Zeiten, so fänden sie, daß ihnen jede Möglichkeit des Vergnügens abgeschnitten sei; sähen sie ein Begräbnis, so jammerten sie und murrten, daß andere in den Hafen der Ruhe gelangten, von welchem sie ewig ausgeschlossen sind. Sie erinnern sich nur an diejenigen Dinge, die sie in ihrer Jugend und in ihrem Mannesalter gelernt und beobachtet, und auch in diesem Punkte ist ihr Gedächtnis nur sehr unvollkommen. Was aber die Wahrheit und die Einzelheiten einer Tatsache betrifft, so ist es besser, sich auf die gewöhnliche Tradition als auf ihr Gedächtnis zu verlassen. Die am wenigsten Unglücklichen unter den Struldbrugs sind diejenigen, welche wieder kindisch werden und ihr Gedächtnis verlieren; diese finden mehr Mitleid und Hilfe, weil sie viele schlechte Eigenschaften, welche man bei den übrigen trifft, nicht besitzen.

Wenn ein Struldbrug ein Weib aus seiner Art heiratet, so wird die Ehe nach dem Gesetz des Königreichs aufgelöst, sobald der jüngere Teil das achtzigste Jahr erreicht hat. Das Gesetz erachtet es nämlich für eine billige Nachsicht, daß denjenigen, welche ohne ihre Schuld dazu verdammt sind, fortwährend in der Welt zu leben, ihr Elend durch die Last eines Weibes nicht verdoppelt werde.

Sobald sie das achtzigste Jahr erreicht haben, werden sie als gesetzlich tot betrachtet. Ihre Erben sukzedieren sogleich in ihren Gütern; nur eine kleine Summe wird für ihre Ernährung zurückbehalten, und die ärmeren werden auf Kosten des Staates verpflegt. Nach dieser Zeit dürfen sie kein Amt mit oder ohne Gehalt verwalten, sie dürfen kein Grundstück kaufen oder pachten; auch wird ihnen nicht erlaubt, in irgendeinem Zivil- oder Kriminalprozeß als Zeuge aufzutreten, nicht einmal bei der Entscheidung über Grenzen und Marken.

Im neunzigsten Jahre verlieren sie Zähne und Haare; in diesem Alter fehlt ihnen bereits der Geschmack; sie essen und trinken, was sie erhalten können, ohne Vergnügen und Appetit. Die Krankheiten, an denen sie früher litten, dauern fort, ohne sich zu vermehren oder zu vermindern. Beim Sprechen vergessen sie die gewöhnlichsten Benennungen der Dinge und die Namen der Personen, sogar diejenigen ihrer nächsten Freunde und Verwandten. Aus demselben Grunde können sie sich nicht mehr mit Lesen vergnügen, weil ihr Gedächtnis vom Anfange des Satzes bis zum Ende nicht mehr ausreicht; hierdurch werden sie der einzigen Unterhaltung beraubt, deren sie sonst noch fähig sein könnten.

(Illustration: Grandville)

Da die Landessprache fortwährenden Veränderungen unterworfen ist, so verstehen die Struldbrugs des einen Zeitalters nicht mehr die eines anderen. Auch sind sie nach zweihundert Jahren nicht mehr imstande, irgendein Gespräch mit ihren Nachbarn, den Sterblichen, zu halten, wenn man einige wenige allgemeine Worte ausnimmt. Somit erleiden sie auch den Nachteil, als Fremde in ihrem Vaterlande zu leben. - (gul)

Lebenszeit Unsterblichkeit Unsterblichkeit
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