Strichpunkt   An erster Stelle sei aufgezeigt, welcher philologische Zweifel diesen Turnierplatz der Kritik unsicher macht: von jeher konnte nie geklärt werden, in welcher Weise an diesem Ort ein Strichpunkt festgestellt wurde. Lange Zeit hindurch hat man in der Tat Überhaupt nicht von irgendwelcher Zeichensetzung gesprochen, sondern nur von Flecken, Klecksen, Unsauberkeiten. Man befürchtete eine Krankheit des Textes und manche kündigten bereits trauervoll seinen bevorstehenden Hinschied an. Wer jedoch zurecht davon abstand, den Text als verstümmelt oder fehlerhaft oder verfälscht oder verhunzt anzusehen, phantasierte, daß dies Kommentarspur sei, die sich ungelenk verkörpert habe in einem Geklecker, einem typographischen Fliegenschiß, dem Spritzer eines mittelmäßigen oder verbogenen Stahlfederchens.

Heute allerdings, obgleich unglaubliche Probleme davon herrühren, unheilbare Verirrungen, Schwindelanfälle und Beklemmungen, bahnt sich die Versuchung Weg - als Folge einer nicht unvernünftigen Verzweiflung -, sie als das zu behandeln, was sie mit Fleiß vorzustellen sich bemühen; als »Strich«-»Punkt«. Es setzt sich dieses Satzzeichen aus zwei Elementen zusammen, die man getrennt oder vereinigt in Betracht ziehen kann. Nehmen wir an, daß der Text in der üblichen Weise gelesen werde, von links nach rechts, auf einer einheitlichen und kontinuierlichen Oberfläche, genau wie die einer Sportzeitung; so geht daraus hervor, daß die Gegenwart eines Strichpunkts an so dramatisch-zentralem Platze einen Sinn haben muß, eine exemplarische, auch tragische, wenn auch nicht aufstörende Bedeutung. Wir stellen in der Tat fest, und es handelt sich um eine durchaus alarmierende wenn nicht beklemmende Feststellung, daß es sich nicht um einen Punkt (.) handelt, welchselber den Raum in gewisser Weise in zwei diskontunierliche Kontinuitäten scheiden würde, in zwei ansehnliche Unendlichkeiten, zwei unendlich fremde und dennoch spiegelgerecht identische Universen; sondern daß es sich um eine Pause handelt, ein Innehalten, eine wahrscheinlich vorgetäuschte Ratlosigkeit, eine Waffenruhe schließlich, die wir nur als bedrohlich empfinden können. Macht sich vielleicht der Text, nicht zufrieden damit, uns erschöpft zu haben mit seinen vieldeutigen Umständlichkeiten, betrügerischen Hintersinnigkeiten, jetzt bereit, zum offenen Angriff überzugehen? So scheint es jedenfalls gerechtfertigt, in dieser Pause - die weniger abstrakt und metaphysisch ist als der Punkt, aber feierlicher und selbstsicherer als das Komma - quasi ein tiefes, anonymes Atemholen herauszulesen, wie wenn einer zu einem mächtigen Schlag ausholt, eine virulente und tödliche Wahrheitsenthüllung herausschleudern, die schlechtverwahrte Ehrbarkeit eines aus Sperma und Exkrementen eilig hingezeichneten Lebens über den Haufen werfen, einen Familienvater entehren will, indem er seine sozial-integrierten tragbaren Genitalien verspottet, Mütter durch die lau überschlagenen Bordellbetten zerren und schließlich überall und auf jede Weise den kollektiven Frieden, die dumpfe Zeremonie unseres Universums auf den Kopf stellen will. Hinter diesem ' Strichpunkt argwöhnen wir den Sinopel eines Mordes, einen Katastrophenentwurf, der, indem er die radikale und vernunftvolle Zerstörung dieses analphabetischen Manuskriptes verweigert, auf die Instaurierung eines permanenten Absterbens zielt, auf eine Agonie, die dem Tod nicht voraufgeht sondern ihm folgt.

Aber es ist auch aus hartnäckiger, herzlichzugetaner, wenn auch von Hinterlist erfüllter Neigung folgendes bemerkt worden: sofern man, wie es vernunftvoll scheint, als gewiß annimmt, daß der Text als auf verschiedenen Ebenen geschrieben zu verstehen sei, könnte man dann nicht vermuten, daß durch einen gewiß unwahrscheinlichen, aber deshalb scheinbar wahren, weil unsinnigen und daher der diskontinuierlichen Logik des Textes entsprechenden Zufall, das Satzzeichen sich teils auf der einen, teils auf der anderen Etage des Textes ortet? Man zögert, diese, offen gesagt, etwas paradoxe Vermutung hinzunehmen, wegen der gekünstelten Schwierigkeit, die daraus entspringt, daß die beiden Zeichen in sich mit so zusammenstimmender Koinzidenz sich aufstellen, daß sie, obgleich autonom und integer, eine graphische Zweigleisigkeit innerhalb eines sinnvoll einheitlichen Zeichens ergeben: so daß dies einen edlen Triumph der Doppelsinnigkeit darstellt, also dem Text keineswegs Abbruch tut. Wenn man jedoch diese Umstände als Gegebenheit annimmt, so taucht sogleich eine Schwierigkeit auf, die wir für unübers teigbar halten. Wie können wir denn den Abstand zwischen den beiden Zeichen ermessen? Das Komma und der Punkt könnten Lichtjahre voneinander entfernt sein, fünfzehntausend Bände weit, oder aber auf Atemnähe beieinanderstehen. Hieraus ergäben sich jedoch sehr unterschiedliche Schlüsse. Befinden wir uns in der Wüste des Nach-Punktes? Im nackten Raum, hinausgeschnellt durch unüberbrückbaren Sprung, vielleicht bereits in der überbevölkerten Tebais, an der Endstation des Weltendes, im ausgefüllten Vakuum, der unzugänglichen Stellage der Kataloge? Oder hockt dieser Punkt in unserem Rücken als verheerender, schweigender Abgrund, und uns Stürzenden bietet sich ein langes Atemholen, nämlich die noble, entspannende, leicht lasterhafte Pause des Kommas?   - Giorgio Manganelli, Omegabet. Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1969)

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VB
StrichPunkt

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