Streich, komischer   Jacques Vaché lernte ich in Nantes kennen, wo ich Anfang 1916 als provisorischer Assistenzarzt in der neurologischen Klinik mobilisiert war. Er lag damals mit einer Wadenverwundung im Krankenhaus in der rue de Boccage. Ein Jahr älter als ich, war er ein rothaariger, sehr eleganter junger Mann, der an der Kunstakademie bei Luc-Olivier Merson studiert hatte. Ans Bett gefesselt, vertrieb er sich die Zeit damit, serienweise Postkarten zu zeichnen und zu malen, für die er sonderbare Bildtexte erfand. Seine Phantasie beschäftigte sich fast ausschließlich mit der Herrenmode. Er liebte die glattrasierten Gesichter, die steifen Haltungen, wie man sie in den Bars beobachten kann. Jeden Morgen verbrachte er eine gute Stunde damit, ein bis zwei Photographien, Farbennäpfchen, ein paar Veilchen auf einem spitzenbedeckten Tischchen neben seinem Bett anzuordnen. Zu jener Zeit schrieb ich Gedichte in Mallarmes Manier. Ich machte eine der schwierigsten Phasen meines Lebens durch, ich begann zu begreifen, daß ich nicht tun würde, was ich beabsichtigte. Der Krieg zog sich in die Länge. Das Hilfslazarett 103 bis hallte wider vom Gebrüll des diensthabenden Arztes, der im übrigen ein reizender Mensch war: »Verdauungsstörung? Kenne ich nicht. Es gibt nur zwei Magenkrankheiten: die eine ist gewiß, Krebs; die andere ist ungewiß, ein Geschwür. Geben Sie ihm eine doppelte Fleischportion und Salat. Das geht vorbei. Ich werde Sie schon über die Klinge springen lassen, mein Lieber, usw.«. Jacques Vaché lächelte. Wir plauderten über Rimbaud (den er immer verabscheut hat), Apollinaire (den er kaum kannte), Jarry (den er bewunderte), den Kubismus (dem er mißtrauisch gegenüberstand). Er war nicht sehr mitteilsam über seine Vergangenheit. Er warf mir, glaube ich, meinen Willen zur Kunst und zur Moderne vor, die seither ... Aber ich will nicht vorgreifen. Das hatte bei ihm nichts mit Snobismus zu tun. »Dada« existierte noch nicht, und Jacques Vaché sollte nie davon erfahren. Er war daher der erste, der die Bedeutung der Gebärden unterstrich, an der Herrn André Gide so viel liegt. Das soldatische Leben macht einen besonders begierig auf individuelle Ellbogenfreiheit. Wer niemals strammstehen mußte, weiß nicht, wie sehr man in gewissen Augenblicken danach verlangt, die Absätze zu bewegen. Jacques Vache hatte es in der Kunst, »den Dingen sehr wenig Bedeutung beizumessen«, zum Meister gebracht. Er begriff, daß Sentimentalität nicht mehr gefragt war und daß die Wahrung der eigenen Würde, deren wesentliche Bedeutung Charlie Chaplin noch nicht hervorgehoben hatte, jede Rührung verbot. »Es brauchte ein bißchen unsere trockene Art«, schrieb er in seinen Briefen. 1916 hatte man kaum Zeit, einen Freund zu erkennen. Selbst hinter der Front bedeutete nichts. Einzig wichtig war das Überleben, und schon die bloße Tatsache, im Schützengraben Ringe zu polieren oder den Kopf zu wenden, galt uns für Verderbtheit. Schreiben, denken genügte nicht mehr: man mußte sich um jeden Preis die Illusion von Bewegung, von Lärm verschaffen. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, verdingte sich Jacques Vaché als Dockarbeiter und lud Loirekohle ab. Den Nachmittag verbrachte er in den Hafenspelunken. Abends, von Kneipe zu Kneipe, von Kino zu Kino, gab er sinnlos viel Geld aus und schuf sich damit eine lebenslustige mitreißende Atmosphäre, wobei er ungeniert log (er stellte mich jedermann unter dem Namen André Salmon vor, weil dieser Schriftsteller ein bescheidenes Ansehen genoß, was mich erst später ärgerte). Ich muß sagen, daß er meine Schwärmereien nicht teilte und ich für ihn lange der »Pohet« blieb, jemand, der nicht genügend aus den Lehren unserer Zeit gelernt hat. Durch die Straßen von Nantes ging er bisweilen in der Uniform eines Husarenleutnants, eines Fliegers oder Sanitätsoffiziers. Es kam vor, daß er einen nicht zu erkennen schien, wenn man ihm begegnete, und daß er weiterging, ohne sich umzuwenden. Weder zur Begrüßung noch zum Abschied gab er die Hand. Er bewohnte ein hübsches Zimmer an der place du Beffroi, in Gesellschaft einer jungen Frau, von der ich nie mehr als den Vornamen erfahren habe: Louise, und die er bei meinen Besuchen zwang, stundenlang bewegungslos und schweigend in einem Winkel zu sitzen. Um fünf Uhr servierte sie den Tee, zum Dank dafür küßte er ihr bloß die Hand. Wenn man ihm glauben darf, hatte er keinerlei Geschlechtsverkehr mit ihr und begnügte sich damit, neben ihr im selben Bett zu schlafen. So hielt er es übrigens immer, wie er versicherte. Trotzdem gefiel er sich darin, sie »meine Mätresse« zu nennen, wohl weil er die Frage voraussah, die Gide eines Tages stellen sollte: »War Jacques Vaché enthaltsam?«

Vom Mai 1916 an sollte ich meinen Freund nur noch fünf oder sechs Mal treffen. Er war an die Front zurückgekehrt, von wo er mir selten schrieb (er, der niemandem schrieb, aber in eigennütziger Absicht seiner Mutter, alle zwei bis drei Monate). Als ich am 23. Juni 1917 gegen zwei Uhr morgens ins Hôpital de la Pitié zurückkehrte, wo ich in Behandlung war, fand ich einen Zettel von ihm vor, zusammen mit der Zeichnung, die am Anfang seiner »Briefe« abgebildet ist. Er bestellte mich zur Premiere der »Mamelles de Tiresias« am nächsten Tag. So sah ich Jacques Vaché im Conservatoire Maubel wieder. Der erste Akt war soeben zu Ende. Ein englischer Offizier machte gewaltigen Radau im Parterre: das konnte nur er sein. Der von der Aufführung ausgelöste Skandal hatte ihn ungeheuer erregt. Er war mit gezogenem Revolver in den Saal gestürmt und sprach davon, auf das Publikum zu feuern. In Wirklichkeit gefiel ihm das »surrealistische Drama« Apollinaires nicht. Er hielt das Werk für zu literarisch und tadelte die Kostümausstattung scharf. Nach dem Theater vertraute er mir an, daß er nicht allein in Paris sei. Tags zuvor, nachdem er mich vergeblich in der Pitie gesucht hatte, war er spazierengegangen und hatte in der Nähe des Lyoner Bahnhofs das Glück gehabt, einem »kleinen Mädchen« zu Hilfe eilen zu können, das von zwei Männern mißhandelt wurde. Er hatte die Kleine unter seinen Schutz genommen. Sie war vielleicht sechzehn oder siebzehn. Was machte sie mitten in der Nacht in der Nähe eines Bahnhofs? Das hatte ihn nicht gekümmert. Da sie offenbar sehr müde war, hatte er ihr vorgeschlagen, mit dem Zug in irgendeine Richtung zu fahren, und so waren sie nach Fonte-nay-aux-Roses gelangt. Dort angekommen, waren die beiden wieder herumgewandert, und erst auf die dringende Bitte Jeannes hatte er sich schließlich auf die Suche nach einer Unterkunft gemacht. Es war vielleicht vier Uhr. Ein Laternenlöscher, der durch einen poetischen Zufall tagsüber das Amt des Totengräbers versah, hatte sie bei sich aufgenommen. Am nächsten Tag, dem Tag unserer Verabredung, waren sie spät erwacht und hatte gerade noch Zeit, Montmartre zu erreichen. Jacques hatte die Kleine gebeten, in einem Kramladen auf ihn zu warten, mit einer Handvoll Bonbons. Er verließ mich am späten Nachmittag, um sie abzuholen. Sie war ein sehr junges, anscheinend sehr naives Mädchen; er hatte ihr seine Generalstabskarte umgehängt. Sie begleitete uns ins »Rat mort«, wo Jacques Vaché mir ein paar Skizzen zeigte, namentlich mehrere Studien zu einem »Lafcadio«. Jeanne rührte ihn offenbar, er hatte ihr versprochen, mit ihr nach Biarritz zu fahren. Inzwischen stieg er mit ihr in einem Hotel in der Nähe der Bastille ab. Überflüssig zu sagen, daß er am nächsten Tag allein abreiste und so wenig zurücksah wie gewöhnlich, völlig unbekümmert darum, daß Jeanne ihm ihr Leben geopfert hatte, wie sie sagte ... und zwei Tage Atelier. Ich habe Grund zu der Vermutung, daß sie ihm dafür die Syphilis anhängte.

Drei Monate später war Jacques wieder in Paris. Er kam mich besuchen, verließ mich aber sehr bald, um an diesem schönen Morgen allein am Ourcq-Kanal spazierenzugehen. Ich sehe noch den langen Reismeantel, den er über die Schultern geworfen hatte und, die düstere Miene, mit der er von einer gemachten Krämerkarriere sprach. »Sie werden glauben, ich sei gestorben, tot, und eines Tages - alles kommt vor - (solche Formeln brachte er mit leiernder Stimme vor) erfahren Sie, daß ein gewisser Jacques Vaché zurückgezogen irgendwo in der Normandie lebt. Er betreibt Viehzucht. Er stellt Ihnen seine Frau vor, ein unschuldiges Kind, ziemlich hübsch, das niemals ahnen wird, welcher Gefahr es ausgesetzt war. Nur ein paar Bücher - sehr wenige, nicht wahr - sorgfältig im Oberstock verschlossen, bezeugen, daß etwas geschehen ist.« Auch diese Illusion sollte er wenig später verlieren, wie sein Brief vom 9. Mai 1918 zeigt. Der berühmte Brief vom 14. November 1918, den alle meine Freunde auswendig können, bezeichnet die letzte Etappe im Leben Jacques Vachés. »Ich werde aus dem Krieg leicht verblödet hervorgehen, vielleicht so ähnlich wie die wundervollen Dorftrottel (und das wünsche ich mir) ... oder aber ... oder aber ,.. was für einen Film werde ich spielen! - Mit verrückten Automobilen, wissen Sie, Brücken, die zusammenbrechen und riesigen Händen, die auf der Leinwand an ein unglaubliches Dokument herankriechen! - unnütz und unschätzbar! - Mit ungeheurer tragischen Gesprächen, im Abendanzug« usw. Das folgende Delirium ist für uns noch packender als jene in Eine Zeit in der Hölle; »Ich werde auch Trapper oder Dieb oder Goldgräber oder Jäger oder Bergmann oder Signalbläser. Arizonabar (Whisky, Gin and mixed) und herrliche nutzbare Wälder und, wissen Sie, diese wunderbaren Reithosen mit Maschinenpistole, dazu glattrasiert und so schöne Hände mit Solitär. All das endet mit einem Brand, sage ich Ihnen, oder in einem Salon, mit gemachtem Vermögen. — Well.«

Jacques Vaché hat kurz nach dem Waffenstillstand in Nantes Selbstmord begangen. Bewundernswert war an seinem Tod, daß er als Unfall angesehen werden kann. Er nahm, glaube ich, vierzig Gramm Opium, obwohl er angeblich kein unerfahrener Raucher war. Dagegen ist es durchaus möglich, daß seine unglückliche Kumpane nichts von der Drogeneinnahme wußten und er ihnen mit seinem Tod einen letzten komischen Streich spielen wollte.   - André Breton, Verächtliche Beichte. In: Der Pfahl VII. München 1993 (zuerst 1924)

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