Straßenüberquerung   Jene Frau ist noch ziemlich jung (wenngleich ich mich weigere, irgendeine diesbezügliche Frage an sie zu richten), und deshalb heften sich ihr beim bloßen Akt des Überquerens der Straße, für den sie sich die flüchtige und neutrale Komplizenschaft der Ampeln zunutze macht, Didaskalien ihres Lebens an den Körper. Ihr werdet sie vielleicht nicht als eine schöne Frau bezeichnen, dieweil ihr sinnlich und vergänglich seid - ihr schnöden Ampeln! - doch werdet ihr nicht umhin können, die schwere und zugleich behutsame Art zu bewundern, mit der sie ihren Körper auf die Straße setzt.

Diese Frau hat vier Männer geliebt; jetzt führt sie ein einsames aber nicht verlassenes Leben. Es fehlen noch dreihundert Meter bis zur Haltestelle. Ihren ersten Mann hat sie geliebt als sie - noch jung - im Gespräch mit einem Mann der Töne sich selbst erfuhr. Ich zögere, ihn einen Musiker zu nennen; wahrscheinlich war er ein Genie, bestimmt aber ein vulgäres, ein Trivialgenie. Lange Gespräche, gebaut wie große Landhäuser, beschwichtigten ihre Art zu lachen, besänftigten ihre Zähne. Nach diesem ersten Beiwohner lernte sie einen kurzsichtigen und geduldigen Kybernetiker kennen. War der erste nichts weiter als eine flüchtig auf die Wand skizzierte Figur - dort nach Jahren noch auffindbar - so war dieser eitel, feige und beredt. Sie blieb aus Liebe zur Beredsamkeit. Der Kybernetiker sagte zu ihr »Warte auf mich« und überquerte die Straße.

Zwei Jahre später, als sie gerade einen Reißverschluß suchte, hatte die Frau eines Tages ein Abenteuer - sie weiß nicht ob aus Liebe, aus Zerstreutheit, aus Eile, oder infolge mangelhafter Konsultation der Wörterbücher. Ein Ausländer? Sie ist nicht sicher. Von ihm hat sie einen Sohn. Dort ist er. Dann liebte sie wahnsinnig einen Tulpenzüchter, der Lotto spielte und glaubte, daß Gott den Schluckauf habe. Er sah jenen Sohn mit Argwohn - oh nein, ohne Haß.

Nun, da die Frau tot ist - sie hat damals jenen Autobus genommen, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig - wandelt sie durch die Labyrinthe des Scheol und versucht zu verstehen, warum ihr Sohn, der sie schmerzlich und allein auf der seltsamen Krümmung Erde überlebt, aus einem Abenteuer mit einem Mann hervorgegangen ist, an dessen Namen sie sich nicht erinnert.  - (pill)

Fußgänger Straße

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