Hugo Häring, in: Martin Wagner u.a. , Das wachsende Haus. Berlin
1932
Strahlung (2) Die
scheinbare Fernwirkung, die bei attraktiven und imitativen Vorgängen so oft
zutage tritt, wird von einem neuzeitlichen, freilich selbst noch vielumstrittenen
Zweige der Physik ihrer Rätsel entkleidet und dann auch in ihrer technischen
Auswertung gefördert werden können: von der Emanationslehre. Nicht ernst genommen
in ihrer Ursprungsgestalt als Odlehre des Freiherrn KARL
von REICHENBACH, hat sie neuerdings durch die Erfahrungen der Radiologie und
Wünschelrutenlehre festeren Boden gewonnen und namentlich auf den durch M. BENEDIKT
(1915) gewiesenen Wegen Zukunftsbedeutung angenommen. "Viele neue, in ihrer
vorläufigen Unverständlichkeit ganz wunderbar erscheinende Strahlenarten sind
unterdes entdeckt worden. Wir fangen an, es natürlich zu finden, daß die Stoffe
allerlei Stoffteilchen von sich schleudern, Atome und tausendstel Bruchstücke
von Atomen, die Trümmer eines Atomaberglaubens. Sie bilden so eine Dunsthülle
um sich, Gasmoleküle werden von ihnen mit märchenhaften . Geschwindigkeiten
sozusagen abgeschossen; es sind die sogenannten Emanationen"
(GILBERT, 1915). Die Ausstrahlungen, Ausschleuderungen sind vollkommen geeignet
und dazu ausersehen, die schier unbegreiflichen imitativen und attraktiven Beeinflussungen
genügend benachbarter, einander aber nicht notwendig schon berührender Körper
auf eine materielle oder, besser ausgedrückt, energetische Basis zu stellen.
Die einander fernen Körper erreichen sich durch ihre Aussendungen winziger Stoffteilchen,
mit den spezifischen Energien der ausschickenden Körper beladene Boten, Mittler
durch den dazwischenliegenden Raum. Bei Personen mit feinst reagierendem Nervensystem,
wie es z. B. die "Rutengänger" sind, gelangen die Emanationen zu oberbewußter
Empfindung; und es ist im höchsten Grade bemerkenswert für die von uns geforderten
polaren Bedingungen der Attraktion, daß jene Empfindungen dann ebenfalls polar
differenziert sind: die „Sensitiven" merken
es, ob ihnen das positive oder negative Ende eines Magnetes, Kathode oder Anode
einer vom elektrischen Strom durchflossenen Spule zugewendet ist; „sie können
im Dunkeln feststellen, ob ein Gegenstand nach dem Südoder Nordpol der Erde
gerichtet ist, ob ihnen jemand die rechte Hand reicht oder die linke".
- Paul Kammerer, Das Gesetz der Serie. Eine Lehre von den Wiederholungen
im Leben und im Weltgeschehen. Stuttgart und Berlin 1919
Strahlung (3)
Strahlung (4) Ich sollte ... ich hätte sollen ... Seine Geschichte ist voll von unterlassenen Schritten, voll von diesem «hätte sollen» - er hätte heiraten sollen, hätte seinem Schwiegervater gehorchen sollen, hätte in Harley Street bleiben, freundlicher sein, Fremden häufiger zulächeln und auch Maudie Chilkes Lächeln heute nachmittag erwidern sollen ... warum konnte er es nicht? Ein albernsehnsuchtsvolles Lächeln, was wäre schon dabei, wo liegt die Hemmung, wo ist der Knoten auf seinem Mosaik? Die hübschen, bernsteingelben Augen hinter den Gläsern der Dienstbrille ... Frauen gehen ihm aus dem Weg. Er weiß auch ungefähr, woher das kommt: er wirkt unheimlich auf sie. Normalerweise spürt er es sogar selbst, wenn er beginnt, diese Unheimlichkeit auszustrahlen - seine Gesichtsmuskulatur verkrampft sich, Schweiß will ihm ausbrechen ... er ist machtlos dagegen, kann sich nicht lange genug konzentrieren, sie lenken ihn doch so ab - und schon ist die unheimliche Strahlung wieder da ... und ihre Reaktionen sind vorhersehbar: mit einem Schrei, den nur sie selbst und er zu hören vermögen, laufen sie vor ihm davon. Und dabei würde er nichts lieber tun, als sie einmal wirklich zum Schreien bringen ...
Er fühlt eine Erektion wachsen, er wird sich heute
abend wieder in den Schlaf masturbieren, eine lustlose
Gewohnheit, eine feste Institution in seinem Leben. Doch welche Bilder
werden ihm, kurz vor dem hellen Gipfel, in die Augen stechen? Nichts anderes
als die Türme und blauen Kanäle, die Segel und Kirchen von Stockholm - das gelbe
Telegramm, das Gesicht einer großen, schönen, wissenden Frau, die sich nach
ihm umdreht und ihn beobachtet, wie er die offizielle Limousine besteigt, eine
Frau, die ihn später und kaum zufällig in seiner Suite im Grand Hotel aufsuchen
wird ... - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei
Hamburg 1981
Strahlung (5) Kälte
ist keine Energie und kann deshalb auch nicht
zurückgestrahlt werden .. . Das war interessanter, als sie gedacht hatte, denn
sie war hier nur hereingeschneit, weil es für den Englisch-Kurs der Volkshochschule,
ein Stockwerk tiefer, zu spät war. Sie hatte die S-Bahn um eine Viertelminute
verpaßt, 10 Sekunden früher, und sie hätte sich noch durch die automatische
Tür hineingezwängt. Dann wollte sie nicht durch die Tür hinter dem Vortragenden
in den Unterrichtssaal eintreten und (auf englisch oder deutsch?} eine Entschuldigung
murmeln, sich zu einen Platz durchzwängen, alle Augen auf sich gerichtet, auf
ihr Gesäß, ihren Hals. Deshalb war sie panikartig ein Stockwerk höher in den
Saal 109 geeilt, der frontal zum Vortragenden betreten werden kann. Sie saß
unauffällig auf einem der Plätze neben der Tür und dachte hinsichtlich der Kälte,
welche nicht die Kraft hat zurückzustrahlen, ja überhaupt keine Kraft, sondern
ein Zustand ist, an das Unvermögen Achims, zu bemerken, wann sie ihm kalt oder
erhitzt gegenüberstand. Er war nicht in der Lage, irgend etwas, was er empfing,
zurückzustrahlen. In Florenz aber, in einem der lebendigsten Jahrhunderte der
Stadt, bauten Gelehrte (Rhetoriker} vor dem Herzog, einem der Media-Bankiers,
eine Reihe von Geräten auf: einen Eisblock (wie Achim, müde), verbunden mit
einem Spiegel; der Strahl oder die Reflexion des Eises sollte eine heiße Suppe
in einem Topf kühlen. Dieses Experiment (an einem Frühlingstag) gelang nicht
sofort eindeutig, da die Suppe an der Luft auch ohne Einwirkung der Eisstrahlen
kühlte. Irgendwie wurde dann aber bewiesen, daß Eis nicht strahlt, während ein
neben dem Eisblock befestigtes Licht (als Wärmequelle}, auf komplizierte Weise
gespiegelt, nicht mechanisch, Pünktchen für Pünktchen, aber doch, wie man heute
weiß, in Intervallen an bestimmten erogenen Stellen der Materie die Kraft, die
in ihm steckt, weitergibt, bis nichts mehr übrig ist. Es wurde eine schöne Dreiviertelstunde,
für den Kurs hatte Gerda nicht bezahlt. Sie beschloß, sich von Achim dringlich
zu trennen, führte den Beschluß am Abend aber nicht aus, weil sie noch in Eile
war. - (
klu
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