Stimme, verhaltene   . Du wirst dich nicht wundern, unter den Stimmen des erbarmungsvollen und beharrlichen Gesangs eine dünne, schrille, schnelle und nicht selten stotternde Stimme zu vernehmen, die ununterbrochen spricht - unharmonisch und verbissen. Diese Stimme ist nichts weiter als ein hastiges Röcheln, etwas, das keine Atempause kennt und dir unverständlich ist; doch Hand aufs Herz: gab es unter den Stimmen, die du bis jetzt gehört hast, eine einzige, die dir verständlich gewesen wäre? Aber diese hat eine Eigenschaft, die die anderen nicht haben - oder irre ich mich? Sie ist die Stimme der Verhandlung. Sie ist aufmerksam, genau, stichhaltig. Advokatenhaft in ihrer Hartnäckigkeit; höfisch im Adel ihrer Akzente, was du der ebenso schönen wie raschen Silbenskandierung entnimmst; dialektisch, was deutlich aus der klaren wenn auch unverständlichen Artikulation jener Wortbehälter hervorgeht, in denen man sich Propositionen, Deduktionen, Prämisse und Schlüsse in einer scharfsinnigen syllogistischen Raserei vorstellen muß, deren Ziel die Überredung sein könnte, sofern jemand zu überreden da wäre, aber in Wirklichkeit kann niemand sagen, ob es jemanden zum Überreden in irgendeiner Weise irgendwo gibt. Deshalb kann die Definition jener verhaltenen Stimme auch keine andere sein als die, daß sie der Vorschlag für eine Verhandlung ist. Es kann zum Beispiel sein, daß man argumentiert, es sei möglich, auf einen Teil des Sinns oder auf einen erschöpfenden Sinn zu verzichten, vorausgesetzt es wird ein Sinnersatz geboten, und ich glaube, daß dieser Antrag - wenn man von einem Antrag sprechen kann - eine andere Stimme zum Gegenstand hat. Und es ist sogar keineswegs ausgeschlossen, daß die Stimme der Unterbefragung oder der argumentativen Sottovoce - sich tatsächlich - auch wenn du es nicht hören kannst - mit irgendeiner anderen Stimme unterhält, die nur sie wahrnehmen kann; du wirst aber bemerken, daß es in der Rede der fragenden Unterstimme in keinem Augenblick eine Pause gibt, und es ist deshalb anzunehmen, daß wenn eine andere Stimme existiert, diese zu der fragenden Stimme beständig parallel verläuft. Aber im Grunde ist diese Stimme, die nur eine Stimme hören kann, nichts als ein Märchen oder eine Marotte. Doch gewiß läßt die Befragung nicht davon ab, überall dort, wie wir schon sagten, beteuernd zu argumentieren, wo sie vorgibt, im Zentrum einer barmherzigen und freudigen Menge zu sein; oder zu schelten und zu drohen, mit schöner Dialektik, wenn auch eingeschlossen in eine der vielen Definitionen des Wahnsinns, sobald sie eine Art von Akkord vorschlägt - etwas, wodurch der Austausch der Stimmen keine sinnlose und unerträgliche Prozedur mehr wäre, sondern eine mögliche Hypothese einer Karte, die Idee für eine Kartographie von Negation und Affirmation, ein Verzeichnis aller Formen von Stimmen, Geräuschen, Klängen und Gesängen, so angeordnet, daß eine Art gesangliches oder jedenfalls stimmliches oder wenigstens lärmendes Universum entstünde, aber nicht unerträglich für sich selbst; und daß man dir, dem Hörenden, eine nicht unnütze und nicht unerträgliche Aufgabe zuwiese - etwas zwischen Kartographie und Kartomanie - und daß dein Ruhen bei einer trägen und verängstigten Rast, dieses Nächtigen zwischen den zweifelhaften Zeichen eines zugleich verlassenen und übervölkerten Dorfs ein Ende hätte. Was aber wirklich zählt, ist die Tatsache, daß es in diesem himmlischen Polyeder eine Stimme gibt, die verteidigt, und sei es auch grundlos, zumal das Wahrzeichen aller Stimmen, aller Argumente oder besser gesagt aller Symptome der Befragung die Vergeblichkeit ist; denn sicher hat diese ganze unangenehme und irritierende Stimmlichkeit etwas Fiebriges, wie ein Eitern des Raums oder eine himmlische Verwesung, die Geraun und Getöse erzeugt - endlos. Und deshalb stellt die Karte, die du im Geiste entworfen hast, um das iterative Grauen der Stimmen in Schach zu halten, eine Art kosmischer Fieberkurve dar, ein Diagramm der Ekzeme, Infektionen, Tumoren, Eiterherde, Geschwulste, Verwachsungen und Abszesse - die sich dir alle als Stimmen offenbaren, ganz und gar Stimmen, und wenn diese Stimmen Wörter enthalten, angeordnet wie zu einer Rede, dann weißt du doch nicht und kannst auch nicht wissen, ob deine Aufgabe wirklich darin besteht, durch dein reines Hören für ihre Existenz auf der Stimmenkarte - oder auch außerhalb der Grenzen dieser Karte - zu garantieren.   - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989
 

Stimme

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