terbeotto  Ich hockte mich zu dem Sterbenden. Dieser blies die Wangen auf, so als habe da eine Kiemenatmung eingesetzt. Aus seiner Stecktuchtasche kam, kaum hörbar, Musik von einem winzigen Batterieradio. Der Mann trug bunte Kniestrümpfe, und sein Rock hatte an den Ellbogen helle Flicken, die mich an gewisse Armbinden erinnerten. Er schien alt zu sein; seine Haare waren weiß. Oder war er in Wirklichkeit jung und wurde nur jetzt, beschleunigt wie in einem Trickfilm, weißhaarig und runzlig? Ich empfand einen eigentümlichen Ekel - etwas wie ein Mit-Gefühl mit dem Ekel des da Liegenden: darüber, nun sterben zu müssen; keinen Taufnamen mehr zu haben, sondern nur noch so etwas Ähnliches wie ein »Sterbeotto« oder »Sterbeerwin« zu sein. Dann zog der Weißhaarige tatsächlich die Grimasse des äußersten Widerwillens, welche auch mir, dem Dabeihockenden, unterlief.

Diese Grimasse noch im Gesicht, schaffte ich den Körper rasch aus dem Hohlweg hinauf auf die Böschung. Der Felsrand ist da nah, und ich ließ den Toten fallen. Es zog mich freilich hinter dem Stürzenden her, und ich fiel für einen Augenblick mit ihm mit.

Die von dem Berg springenden Selbstmörder durchschlagen dabei unten manchmal die Dächer oder zerreißen die Obusdrähte. Hier jedoch war die von der Innenstadt abgekehrte Bergseite, mit selten betretenen Terrassen am Fuß, und verborgenen Waldwinkeln. Was gerade geschehen war — das wußte ich im Moment des Sturzes —, würde niemals aufgeklärt werden. Meine Freiheit war nicht in Gefahr. Der Kadaver würde dort unten geruhsam verwesen. - Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1983)

 Sterben Namen Mord, perfekter Fallen 

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Schlucht
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