Sterbegesicht   Ich betrat ein Postamt, um mich beim Direktor des »Mercure« zu entschuldigen, und erwähnte die Umstände, die mich für diesen Tag und vermutlich noch mehrere der Redaktion fernhielten. »Merkwürdige Idee, sich zur Fastnacht als Leiche zu kostümieren«, fügte ich hinzu, wie es mir eben durch den Kopf geschossen war. Und das war nicht einmal ironisch gemeint

Endlich war ich in Courbevoie. Mein Vater hatte sich immer noch nicht gerührt. Er begann nur mühsamer zu atmen, sein Gesicht war etwas mehr geschwollen und gerötet, die Stirn noch glühender. Sein Herz hämmerte so stark, daß man es hörte, und seit dem Sonntagabend hatte er die Augen nicht mehr aufgetan. Auch begann er zu grimassieren, der Mund stand schief, der Unterkiefer war auf die Seite gerückt. Gott scheint nicht eben einladend zu wirken, wenn man, im Begriff vor ihn zu treten, ein solches Gesicht schneidet.

Jetzt halfen keine Redensarten mehr; es hieß abwarten. Ich setzte mich wie in den Tagen zuvor an das Bett neben seine halb ausgestreckten Beine und stützte den Kopf in die Hand. Die Atmosphäre des Todes hat mich seit jeher angezogen, und wenn mich sonst diese Besuche gelangweilt hatten, so war ich nun mit jeder Fiber dabei.

Ich konnte ihn in aller Gemächlichkeit betrachten, denn er hielt mir den Kopf hübsch zugewandtl Und mit welcher Leidenschaft habe ich es betrachtet und wieder betrachtet: das Gesicht des Vaters, der im Sterben lag, dieses Gesicht, das sich veränderte und mit der Annäherung des Todes langsam erlosch.

Das Schauspiel bannte mich an meinen Platz, und nichts auf der Welt hätte mich von der Stelle gerückt. Ein Hauch der Auflösung kam aus seinem Munde, ein Dunst, der mich nach Atem ringen ließ, obwohl das Fenster weit geöffnet war. Immerhin war es auszuhalten, nachdem ich mit den Händen Luft gefächelt und Äther versprüht hatte. Damit gewann ich auch den Vorteil, daß ich mich ihm nähern und zu ihm niederbeugen konnte, um ihn noch besser zu beobachten.

Werde ich es je vergessen können: dieses Haupt, in dem eine so tiefe Trauer nistete? Das wäre gut! Zuweilen kniete ich mich am Kopfende des Bettes nieder, um zu studieren, wie seine absonderliche Grimasse sich im Profil ausnahm. Das nennt man Sympathie! Es überkam mich sogar der Zwang, diese Grimasse zu imitieren, und ich überraschte mich noch dabei, als alles schon acht Tage vorüber war.

Zum Abendessen fuhr ich nach Paris. Die Fastnacht fing jetzt erst richtig an. Welcher Kontrast zum jämmerlichen Schauspiel, von dem ich kam — des Unglücksvogels, der dort abkratzte. Was scherte das Universum sich darum! Fortwährend zwängte ich mich durch Banden, die lachten, sangen und in Konfettiwolken obszön herumtanzten.    - Paul Léautaud, In memoriam. Übs. Ernst Jünger. Stuttgart, Zürich 1980 (zuerst 1905)

 

Gesicht Sterbende

 

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