Sterbefest  Telemach stellte sich an den Rand der Steilküste; sein Gewand fiel zu Boden, und der nackte, junge, gesunde Körper stürzte sich plötzlich in die Leere, wirbelte im Kreise, meteorhaft schnell, gleichsam ein Todesvogel, wirbelte im Kreise, bis schließlich seine auf den Felsenriffen zerschmetterten Knochen wie ein Sack vor den Wellen niederstürzten, die darob nicht einmal schluchzten. Mentor sprang zur Kante des Kliffs vor und schrie lauter als das Meer:

»Telemach, der Sohn des Odysseus, ist auf lächerliche Weise in den Tod gegangen, um zu zeigen, daß er frei ist, und sein von den Sarkasmen und der Schwerkraft bestimmter Tod ist die Verneinung eben jenes Zufalls, den er um den Preis seines Lebens bestätigen wollte. Mit Telemach ist der Zufall zugrunde gegangen. Hier beginnt die Herrschaft der Weisheit.«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, löste sich ein lockerer Felsbrocken aus dem oberen Teil der Küste und zerschmetterte wie einen einfachen Sterblichen die Göttin Minerva, die aus purer Laune die Gestalt eines Greises angenommen hatte und es nun diesem Einfall verdankte, mit einem Schlag ihre menschliche und ihre göttliche Existenz zu verlieren. Vögel zogen höhnisch über die Leichen hinweg und pfiffen Tanzmelodien. Die Winde erhoben sich voller Freude und kämmten sich mit den Zacken der Berge. Die endlich befreiten Wälder strömten zu den Behausungen der Menschen und verschlangen sie. Die Steine barsten. Die Pflanzen flogen lässig davon, als hätten sie ihr Lebtag nichts anderes getan. Die aus dem Schlaf geweckten Vulkane schauten sich über die Ozeane hinweg an, bewegten sich aufeinander zu und vereinigten sich, unter den wie Regen wohltuenden Küssen der Krater, in Lava-Liebeswonnen. Die Wasser hatten ihre Verbindung und ihren Zusammenhang verloren, sie waren nunmehr über das Universum zerstreut. Der Himmel, ein in Wahn geratener Stoff, zerriß und zeigte die unanständige Nacktheit der Planeten.

Das Firmament wurde von den Geschlechtsteilen der Lichter übersät. Das Gewölbe der Tage und Nächte verwandelte sich in Fleisch, und diejenigen unter den Menschen, die die Umwälzungen überlebt hatten, starben vor Begehren angesichts des über ihren Köpfen schwebenden schamlosen Hinterns. Der Sand der Wüsten wurde zur Schlange, öffnete - ein blitzhaftes Zusammenzucken - die Augen im Schauder der nächtlichen Samenergüsse. Die Nebelsterne trieben sich in den lachenden Landschaften herum. Die Spinnrocken tanzten und verloren dabei ihre silbrigen Haare. Die großen Rotationsmaschinen machten auf den Kiesel-Stränden miteinander Liebe. Die Preßlufthämmer gingen allerliebst auf den Grünplätzen spazieren, und während sich die Metalle auf den Lustwiesen jaulend liebkosten, brach auf seinen Zärtlichkeitsrössern der Herrgott wie ein Verrückter in schallendes Lachen aus.  - Louis Aragon, Die Abenteuer des Telemach. Frankfurt am Main 1985  (zuerst 1922)

 

Sterben Fest

 

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