teilküste  Mich überkam eine schreckliche Kälte, der Schweiß drang mir aus den Poren, sogar die Seele in mir wurde krank vor Angst.

Ich gebrauche das Wort ›Seele‹, weil dieser erneute Anfall von Übelkeit ärger denn ein bloß physischer war. Damals war ich noch jung und konnte bei dem langen Weg auf Nerven und Muskeln vertrauen, doch die Angst verdünnt gleichsam das Blut - Angst als geistiges und nicht bloß als kreatürliches Entsetzen. Sie wartet ihre Zeit ab, bis an Stelle des Natürlichen das Unbekannte tritt.

Nicht, daß die sogenannte Natur, selbst dort, wo sie uns am freundlichsten begegnet, eine Art alter Familienamme wäre, die einem jeden Morgen das Bett richtet und uns mit einem »Gott segne dich« über Nacht zudeckt. Die Natur bringt uns Menschen in Millionen hervor wie Ameisen, Blattläuse, Aale und Kaulquappen, um uns nachher uns selbst zu überlassen. Wir können nicht einmal erraten, was sie so an hübschen kleinen Überraschungen für die Zukunft bereithält. Nicht einmal erraten können wir's. Aber das ist nur ein Gemeinplatz. Überhaupt, soweit wir es beurteilen können, sollte man das Wort »Natur« nicht unbedingt groß schreiben. Doch möcht' ich damit nur ausdrücken, daß sie, obwohl sie mich mit all ihren üblichen Kunststücken in diese Falle gelockt zu haben schien, ein passiver Gegner blieb. Was mich nun einhüllte wie ein Gifthauch - als ich, Gesicht, Handflächen, Knie und Bauch eng an den Felsen gepreßt, mich noch einmal langsam von zollbreiten Kanten und zolltiefen Gewächsen weiterquälte, indes meine Zunge wie Zunder war und meine Augen jede von ihnen anvisierte Kleinigkeit zu vergrößern schienen - war das Bewußtsein einer Macht oder eines Einflusses jenseits der Natur. Es war nicht so sehr der Tod - und ich sah wirklich mit eigenen Augen meinen Körper leblos nach unten stürzen - was ich fürchtete. Was mich, ärger, als es sich sagen läßt, entsetzte, war ein hier gegenwärtiges Etwas, das sich in noch ärgerer Lage befand denn ich. Etwas lauerte mir auf.

In solcher Situation verliert man das Zeitgefühl. Ich war zu einem Automaten geworden - nicht viel besser denn ein Käfer, gehorsam dem geheimen Diktat, das man, soviel ich weiß, den Selbsterhaltungstrieb nennt; und wie ich es eigentlich zustande brachte, das letzte Stück des Abgrunds ins Auge zu fassen und zu umgehen, kann ich mich nicht entsinnen. Doch nachdem ich es nun einmal bewerkstelligt, war ich wenige Minuten später in relativer Sicherheit. Ich fand mich dabei, wie ich langsam einen Pfad entlangkroch, der nun so breit geworden war, daß er mir ermöglichte, mein Gesicht von dem Felsen zu erheben und sogar Rast zu halten. Und wenn auch der Abgrund unter mir kaum weniger tief und riesenhaft war und der Felsabsturz oben buchstäblich auf meine Nische niederhing, sah ich mich doch zunächst aus der physischen Gefahr befreit. Ich war sozusagen wieder ich selbst, hatte zu mir zurückgefunden. Es war hoch an der Zeit dafür. Mein Schädel schien zu Eis erstarrt, ich war über und über naß von Schweiß, meine Fingernägel waren abgebrochen meine Hände blutbedeckt, und meine Kleidung hätte einem Landstreicher Schande gemacht. Doch alle Spuren von Angst waren von mir abgefallen, und was mich nun in dieser fast unerträglichen Reaktion aus der Fassung brachte, wardie reine Schönheit der Landschaft, die sich vor meinen Augen auftat. Halb gegen den Fels gelehnt, keine Bewegung wagend, die ausgestreckten Hände an zwei Felsvorsprünge geklammert, saß ich, hin und herblickend, da und weidete mich an dem vor mir ausgebreiteten, staunenswürdigen Panorama; dessenungeachtet war ich mir der Anwesenheit eines Etwas bewußt, eines Etwas - wie soll ich's nur ausdrücken - das sich von unsrer vertrauten Freundin Natur ein wenig unterschied, fremder war, unmenschlicher. - Walter de la Mare, Mr. Kempe. In: W. M., Aus der Tiefe. Frankfurt am Main 1984 (st 982, zuerst 1923)

 

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