tart, schlechter   Eines Morgens war es Kencim beim Erwachen, als müsse er miserabel aussehen. Da er höchst seltsamer Weise abergläubisch war, sprang er mit einem Satz aus dem Bett und auf den kleinen Handspiegel zu, der auf dem Tisch lag. Kencim hatte sich nicht getäuscht: aus dem Spiegel grinste ihm ein eingefallenes grünliches Gesicht entgegen, in dem die Augen gleich schwarzfettigen Oliven hingen.

Kencim schleuderte den Spiegel auf den Divan und machte sich, überzeugt, einen schlechten Tag vor sich zu haben, mißmutig an die Toilette, mitunter resigniert innehaltend, so sehr quälte ihn das Bewußtsein seines reduzierten Exterieurs, das er gerade an diesem Tage zu einer gewissen Unternehmung in seinem normalen Glanze dringend benötigt hätte.

Und siehe da, bereits in der Portierloge fing es an: von den drei Zeitungen, die er abonniert hatte, fehlte der Figaro. Und als er das Hotel verließ, sprach ihn so unvermittelt, daß er fast erschrak, ein ziemlich schlecht gekleideter Mann an, der das Französische auf eine Weise radebrechte, die keiner fremden Sprache zu entsprechen schien. Erst nach wiederholtem Fragen und auch dann nur, weil er es erriet, vermochte Kencim ihm die Auskunft zu erteilen, die er wünschte.

Nervös und verstimmt begab Kencim sich in das gegenüber befindliche Café Biard. Der Kaffee stand kaum vor ihm, als er auch schon wieder auf die Straße lief, um sich den Figaro zu kaufen. Seine Nervosität steigerte sich noch, als bei seiner Rückkehr von den beiden Zeitungen, die er auf dem Tisch hatte liegen lassen, die Humanité verschwunden war.

Voll Ärger darüber, daß seine üble Voraussicht sich bestätigte, durchflog er die Zeitungen nur und wollte eben aufbrechen, als er an dem dunkelblauen Trotteur einer draußen vorübereilenden Dame Suzanne zu erkennen glaubte. Sofort rannte er zur Tür: es war Suzanne, die ihm doch so oft gesagt hatte, sie frühstücke ausnahmslos im Café Louis in der Avenue Kléber. Diese Lüge beschäftigte Kencim augenblicklich zwar weniger als Suzannes auffallendes Benehmen, das so gar nicht zu ihrer sonstigen Gemessenheit paßte; aber auch dieses war ihm nur insoferne wichtig, als es ihm wiederum bewies, daß er die schmerzliche Entdeckung, welche ihm über einen bis dahin geschätzten Menschen die Augen öffnete, just an diesem Tage machen mußte. - Walter Serner, Die schwarze Serie. In: W.S.: Der Pfiff um die Ecke. Zweiundzwanzig Kriminalgeschichten. München 1982 (dtv 1741, zuerst 1925)
 

Anfang

 

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme