tallhasenblick Also
wie ist das nun mit dem Leben? Er kriegt immer mehr Luft in die Brust. Rennt
auf einer Hausmauer lang, breitet die Arme. Wenn das so weiter geht, startet
er in absehbarer Zeit. Springt in die Luft, bleibt mal ne Zeit lang in der Luft.
Luft genug hat er in der Brust. Sogar die Knochen füllen sich schon mit Luft.
Und überall hat er diesen Drang. Wenn er nur nicht plötzlich vom abrasierten
Sockel des ehemaligen Palastes gesprungen wäre, um nirgendwohin als in eine
Kellerecke zu kommen. Er schmiegt sich an Stein. Wer streichelt ihn? Also gut,
dann will er, nach allem, was er für sich tun mußte in Rußland und sonstwo,
auch das noch für sich tun. Aber ihn ertappt eine, die reißt ihm die Hand weg,
wirft ein kreuzbesticktes Textil über ihn und schlüpft da auch zur Hälfte drunter.
Die läßt ihm die Luft aus den Knochen. Bricht ihm die Schäfte, rupft ihm die
Federn aus, schwingt sich ihm in den Nacken, gibt ihm knöcherne Fersen, schwer
schleppt er sie und sich hinauf ins Licht und plappert atemlos. Aber unversehens
wachsen die Schäfte, die Federn nach, die Flugformel blüht, er übt, läuft an,
sie selber sagt: Wunderbar, gleich wirst Du fliegen! Und er plustert stolz die
Federn, läßt die Schäfte spielen. Streckt ihr, daß sie sie noch-einmal streichle,
die Flugrüstung hin, dann will er nämlich endgültig starten. Ja, ruft sie, ja.
Und streichelt ihm vor Begeisterung die Luft aus den Rippen und bricht ihm jubelnd
die Schäfte und rupft ihm innig die Federn aus, daß er wieder nichts als die
Gänsehaut hat und rasch Schnaps trinken muß, will er nicht gleich erfrieren.
So geht es weiter. So bleibt es. Nun wirst Du fragen: Aber was für eine ist
sie? Ach, weißt Du, sie hat was Einsackendes. Du fällst mit ihr in den Winkel,
rutschst in ihren Falten fort, sie speichelt Dich ein, ist zwar das Mädchen,
aber Du siehst natürlich deutlich das Kängeruh durch,
das sie ist, und wenn sie am Brot knabbert, verbirgt sie auch das Nagetier
nicht, stör sie nicht beim Knabbern, sonst kriegst Du den lidlos harten Stallhasenblick
und sie wischt Dir eins mit der Pfote und schmeißt Dich kopfüber in ihren schmierigen
Schleimsack, in dem Du herumkreuchen und um Luft kämpfen mußt mit lurchartigen,
farblosen Geschöpfen, die nach verdorbenen Eiern stinken.
- Martin Walser, Das Einhorn. Frankfurt am Main
1966
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