Stadtrandidiot   Zuletzt spielte sie noch ein letztes Bild weiter, eines, das sie besonders in Erstaunen versetzt hatte. In ihm wurde ihr zugetragen der Idiot aus der heimatlichen Flußhafenstadt, der »Stadtrandidiot«. Er hockte da beim Platz des wöchentlichen Fischmarkts. Wie es zu einem solchen Bild gehörte, hatte sie ihn auch genauso einmal dort sitzen sehen. Sie ging an ihm vorüber, und er schaute sie an. Er war kahlköpfig und barfuß. Der Tag war windig und kalt - wenn auch in dem Bild jetzt weder Wind noch Kälte mehr eine Rolle spielten. Oder doch: zumindest der Wind. Denn zwischen ihr, die geht, und dem Idioten wirbeln Papiere und Plastiksäcke auf, untermischt vom Glitzern der Fischschuppen. Der Markt ist zu Ende. Die Stände abgebaut; der Platz leer, nur noch nicht aufgeräumt. Fischköpfe und Zitronenscheiben in Sperrholzkisten, auf dem Boden dahinschlitternd. Der Idiot nicht hockend wie sonst an der Bordkante oder auf einem Randstein, sondern auf einem der Hydranten, mit dem dann der Abfall vom Marktplatz gespült werden wird. Er thront da, auf Augenhöhe mit ihr, der Passantin, die ihn kennt, wie er sie, seit langem.

Und eines Tages hatte der Idiot ebenso neben ihr in der schmalen armenischen Peripheriekirche gestanden, beide gleich fremd da oder auch nicht? die übrigen Meßbesucher zwar nicht weniger fremd, nur unauffälliger? Mehr als einmal sind sie einander über den Weg geraten in den Wäldern, er zwischendurch unterwegs auf einem Moped ohne Auspuff, und dann und wann auch mit einer Frau, jeweils einer verschiedenen, die allesamt sozusagen normal wirkten, zumindest im Vergleich zu ihm, dem ständig die Arme in die Luft Werfenden und sprunghaft entweder mit tiefer Kehl- oder hoher Kopfstimme Palavernden - normal, und an der Seite des Idioten recht guter Dinge, nicht wiederzuerkennen, wenn man die eine Frau oder das eine Mädchen vorher vielleicht allein getroffen hatte. Und einmal hat er ihr, von einem seiner Stammplätze aus, einem aus den Jahrhunderten an der Stadtausfahrtstraße stehengebliebenen Kutschenbremsstein mit eingeritzter Königskrone, begeistert in ihren Wagen hineingerufen: »Ich weiß alles über dich. Ich habe alles über dich gelesen, alles!«

Jetzt dort-da auf dem Markthydranten zittert der Idiot. Es friert ihn. Es klappern ihm die Zahne. Gleich wird er von seinem Sitz verscheucht werden und durchnäßt noch mehr frieren. Weit und breit keine Kumpanin in Sicht. Und die alten Eltern, die ihn über die Jahrzehnte betreut haben, sind gerade gestorben, vorgestern sie, gestern er, oder wurden jedenfalls todkrank irgendwohin gebracht, und der Idiot bewohnt das Haus nun vater- und mutterseelenallein, ein übergeräumiges altes Gebäude mit Spalierobst davor, und vielfältigen Wegen im Garten, auf denen man ihn manchmal sah dahinwandelnd, mit einem kleinen Buch, wie früher einen brevierbetenden Geistlichen - freilich das Lesen bloß -spielend, oder auch nicht?

Es riecht auf dem Platz nach den Fischen, den oft etwas fettigen aus den Flüssen. Der Himmel nordwestgrau. Der Idiot hungrig. Und außerdem ohne Geld, bis auf die zwei Münzen, mit denen er seit jeher in der Tasche klimpert; die er in den Stadtrandbars auf die Theke legt; und die nicht einmal ausreichen würden für den Zucker zum Kaffee - er bekommt diesen dann immer spendiert, und zuckert ihn mit so viel Würfeln, daß die Tasse davon fast überschwappt. Merkwürdig wieder, wie sie, außerhalb ihres Geschäfts, fast nur Leuten begegnete, die kein Geld hatten und, noch merkwürdiger, damit auch wenig im Sinn hatten, und wie ihr das, merkwürdig oder nicht?, paßte.

Jene Bildschnuppe mit dem Idioten als Hauptperson spielte, im Unterschied zu den sonstigen, nicht im Frieden. Die Figur dort auf dem Hydranten war im Elend. Nicht bloß, daß ihr kalt war, undsoweiter: darüber hinaus eine endgültige Aussichtslosigkeit; bevorstehendes Abtransportiertwerden aus dem Haus und der Gegend, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hat; Weggeschafftwerden, vielleicht in einer Stunde schon, aus dem einzigen dem Idioten halbwegs möglichen Existenzbereich.

Und trotzdem, auch das im Gegensatz zu der übrigen jetzigen Bilderfolge, nicht die Spur von Kummer in dem Anblick; kein Trennungsschmerz; kein Anhauch von Todes- oder Vergehensangst. Der Idiot ist, inmitten des Wirbels der Marktfetzen und der Bedrängnisse, unberührt, und unberührbar. Er ist auf seinem momentanen Sitz die Unberührbarkeit in Person, jenseits von Frieden und Krieg, Himmel und Hölle. Er hockt - nein, nicht »thront« - da in Todesverachtung - auch Lebensverachtung? nein, erhaben über all unsere dummen Gedanken an mangelnde Dauer, Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit; die Gegenwart höchstselbst, jenseits meiner Betrübnisse und Freuden; der verkörperte Augenblick; nichts als da, und vor allem, wie eben nur ein Idiot, mit-da.    - Peter Handke, Der Bildverlust. Frankfurt am Main 2002

 

Stadtrand Idiot

 

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