Stadt, tote   Was sie die »Stadt« genannt hatten, das glich in Wirklichkeit nicht im geringsten einer irdischen Siedlung. Aus dem Sand der Wanderdünen ragten in unbekannter Tiefe verwurzelte dunkle Massive mit einer stacheligen, bürstenartigen Oberfläche hervor, unähnlich allem, was dem menschlichen Auge je begegnet war. Die undefinierbaren Gebilde waren viele Stockwerke hoch. Sie hatten weder Fenster noch Türen, ja nicht einmal Wände. Manche sahen aus wie in Falten gelegte, an unendlich vielen Stellen einander durchdringende, dicht verwobene Netze mit Verdickungen an den Knotenpunkten, andere erinnerten an komplizierte Raumarabesken, wie übereinandergeschichtete Bienenwaben oder Siebe mit drei- oder fünfeckigen Öffnungen bilden mochten. Jedes größere Bauelement und jede sichtbare Fläche ließ eine gewisse Regelmäßigkeit erkennen, zwar nicht so einheitlich wie bei einem Kristall, aber zweifellos in einem bestimmten Rhythmus, den allerdings vielfach Spuren der Zerstörung aufhoben. Wieder andere bestanden aus eng verwachsenen, gleichsam eckig behauenen Ästen. Die Äste verzweigten sich jedoch nicht beliebig, wie bei Bäumen und Sträuchern, sondern bildeten entweder den Teil eines Bogens oder stellten zwei entgegengesetzt gewundene Spiralen dar. Die Männer stießen aber auch auf Konstruktionen, die geneigt waren wie die Träger einer Zugbrücke. Die meist von Nord wehenden Winde hatten auf allen waagrechten Flächen und dort, wo das Gelände sanft abfiel, Flugsand angehäuft, so daß mehrere Ruinen von fern wie gedrungene Pyramiden mit abgeschnittene Spitze wirkten. In der Nähe jedoch zeigte sich, was ihre scheinbar glatte Oberfläche in Wirklichkeit war: ein System vergabelter, spitz auslaufender Stangen und Leisten, hier und da so vielfältig verschränkt, daß in diesem Gestrüpp sogar der Sand hängenblieb.

Rohan glaubte, kubische oder pyramidenähnliche Felsreste mit einer abgestorbenen und verdorrten Vegetation vor sich zu haben. Aber auch dieser Eindruck schwand, je mehr er sich näherte: Trotz des Chaos der Zerstörung trat eine Regelmäßigkeit zutage, wie sie lebenden Formen fremd ist. Es waren keine richtigen, massiven Ruinen. Durch Ritzen im Metallgestrüpp konnte man in sie hineinblicken. Aber sie waren auch nicht hohl, dieses Gestrüpp füllte sie ganz und gar aus. Über allem lag ein Hauch tödlicher Verlassenheit. - Stanislaw Lem, Der Unbesiegbare. Frankfurt am Main 1996 (zuerst 1964)

Stadt, tote (2)   Der höllische Regen hatte aufgehört. Aber die Stadt gab es nicht mehr. Dächer, Tore, zahlreiche Mauern und alle Türen lagen in Trümmern. Es herrschte eine mächtige Stille, eine wahre Katastrophenstille. Fünf oder sechs Rauchsäulen standen noch in der Luft, und unter dem Himmel, der sich in keinem Augenblick getrübt hatte, einem Himmel, dessen unbarmherziges Blau von ewiger Gleichgültigkeit zeugte, strömte die arme Stadt, meine arme tote, für immer tote Stadt, einen abscheulichen Leichengestank aus. Die Einzigartigkeit der Situation und der überwältigende Eindruck des Geschehens, gewiß aber auch die unermeßliche Freude darüber, daß ich als einziger von allen gerettet war. dämpfte meinen Schmerz, und an seine Stelle trat beklemmende Neugier. Der Torbogen der Vorhalle stand noch, und es gelang mir, über die Verzahnungen hinaufzuklettern.

Es war nichts Brennbares mehr übriggeblieben, und man glaubte sich auf einem Lavafeld. An einigen Stellen, die nicht von der Asche bedeckt waren, glänzte die rote Glut des herabgeregneten Metalls. Zur Wüste hin erstreckte sich, so weit das Auge reichte, eine glänzende Kupferebene. In den Bergen, auf der anderen Seite des Sees, zog sich das verdampfte Wasser zu einem Unwetter zusammen. Während der Katastrophe hatten diese Dampfwolken dazu beigetragen, daß man die Luft überhaupt noch atmen konnte. Die Sonne überstrahlte alles. - Leopoldo Lugones, Der Feuerregen. In: L. L., Die Salzsäule. Stuttgart 1984 (Die Bibliothek von Babel 15, Hg. Jorge Luis Borges)

 

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