Stadt des Möglichen  

 Einem  anderen Tischgenossen schien das Tarot-Quadrat Tod, Papst, Münzen-Acht, Stab-Zwei ganz andere Erinnerungen wachzurufen, was daran zu erkennen war, wie er es mit seinem Blick umkreiste und seinen Kopf schief hielt, als wüßte er nicht recht, von welcher Seite da hineinkommen. Als er den Münzenbuben an den Rand legte, Figur, bei der man ohne weiteres seine eigene dreiste, herausfordernde Art bemerken konnte, wurde mir klar, daß auch er, von dieser Stelle aus, etwas erzählen wollte und daß dies seine Geschichte war.

Aber was hatte dieser unbekümmerte junge Mensch nur mit dem durch das dreizehnte Arkanum heraufbeschworenen makabren Reich der Gebeine zu tun? Er war gewiß nicht der Typ, meditierend durch Friedhöfe zu wandeln, oder es hatte ihn ein ruchloser Vorsatz dorthingezogen: etwa die Gräber aufzubrechen und den Toten die Wertsachen zu rauben, die sie vielleicht unbedacht auf ihre letzte Reise mitgenommen...

 Meistens sind es die Großen dieser Welt, die mit den Attributen ihrer Herrschaft begraben werden, mit güldenen Kronen, Ringen, Zeptern, Gewändern aus glitzernden Metallplättchen. War dieser junge Mann vielleicht ein Grabräuber, so mußte er auf den Friedhöfen die vornehmsten Gräber gesucht haben, beispielsweise das Grab eines Papstes, dieweil die Pontifizes mit allem Glanz ihrer Ausstattung ins Grab steigen. In einer mondlosen Nacht mußte der Räuber die schwere Platte mit Zwei Stäben hochgestemmt und sich ins Grab hinuntergelassen haben. Und danach? Der Erzähler legte ein Stab-As hin und machte eine Bewegung des Aufsteigens, als wüchse etwas in die Höhe: für einen Augenblick meinte ich, mich in meiner Auslegung völlig getäuscht zu haben, so sehr schien mir diese Gestik im Widerspruch zu sein mit dem Hinuntertauchen des Diebes in die päpstliche Gruft. Aber man konnte auch annehmen, aus dem eben erst geöffneten Grab wäre ein gerader, sehr hoher Baumstamm gewachsen und der Dieb wäre hinaufgeklettert oder hätte sich immer höher, bis in die Zweige des dichtbelaubten Wipfels hinaufbefördert gesehen.

Mag jener ein Galgenstrick gewesen sein, so ließ er es zum Glück doch nicht dabei bewenden, nur eine Tarockkarte an die andere zu legen (er machte weiter mit paarweise zusammengefügten Karten in doppelter horizontaler Reihe von links nach rechts), sondern half seiner Erzählung auch mit wohldosierten Gesten nach und machte es uns damit ein bißchen leichter. Auf diese Weise konnte ich verstehen, daß er mit der Pokal-Zehn den Blick von oben auf den Friedhof meinte, wie er ihn von der Spitze eines Baumes gehabt hatte, mit allen längs der Wege auf ihren Sockeln aufgereihten Grabmälern. Während er mit dem Arkanum Der Engel oder Das Gericht (wo die Engel am Himmlischen Thron das Wecken blasen, welches die Gräber aufgehen läßt) wohl nur betonen wollte, daß er die Gräber von oben betrachtete wie die Himmelsbewohner am Jüngsten Tag.

Auf der Spitze des Baumes, zu der unser Mann wie ein Lausbub hinaufgeklettert war, gelangte er an eine schwebende Stadt. Solcherart glaubte ich Die Welt auslegen zu sollen, das größte Arkanum, das in diesem Tarockspiel eine auf Wellen oder Wolken schwebende und von zwei geflügelten Putten gehaltene Stadt zeigt. Es war dies eine Stadt, deren Dächer an das Himmelsgewölbe rührten wie einst Der Turm zu Babel, den uns gleich darauf ein anderes Arkanum wies. »Wer in den Abgrund des Todes niederfährt und den Baum des Lebens emporsteigt", mit diesen Worten, dachte ich, wurde der unfreiwillige Pilger empfangen, »kommt in die Stadt des Möglichen, von der aus man das Ganze betrachtet und jegliche Wahl trifft." Hier nun half uns die Mimik des Erzählers nicht mehr weiter, und es mußten Vermutungen angestellt werden. Vorstellbar war, daß unser Übeltäter, sobald er die Stadt des Ganzen und der Teile betreten hatte, sich wie folgt anreden hörte: ,

»Willst du Reichtum (Münzen), Stärke (Schwerter) oder Weisheit (Pokale)7. Wähle augenblicklich!" Ein gewappneter und strahlender Erzengel (Schwertreiter) war's, der ihn so fragte, und unser Mann rief rasch: »Den Reichtum (Münzen) wähle ich!« »Stäbe bekommst du!« war des berittenen Erzengels Erwiderung, während Stadt und Baum sich in Rauch verflüchtigten und der Räuber auf zusammenkrachende Äste im Walde herunterstürzte.

 - Italo Calvino, Das Schloß, darin sich Schicksale kreuzen. München 1987

Stadt Möglichkeit

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

Synonyme