Stadt am Ende der Welt   Die große Stadt am Ende der Welt stellte ich mir so vor: volkreich, bevölkert, aber ohne PÖbel; weder allzu planmäßig angelegt noch allzu verwinkelt; die Straßen eben gepflastert, eher schmal, aber nicht eng, - in ihnen stülpen die Läden die tiefen Innenräume ihrer reichhaltigen Vorratskammern über die Vorübergehenden aus; in ihnen tragen die Dächer, die hornför-mig geschwungen sind, wie es sich nach zweitausendjähriger Überlieferung geziemt, nicht zwei Hörner -und dennoch fangen sie den Blick und lassen ihn emportaumeln in die Tiefe des chinesischen Himmels, des alleslenkenden Himmels, des Oberhauptes und Ahnherrn. Diese Stadt hatte ich mir erträumt als einen gelungenen Rompromiß zwischen Himmel, Erde, Land und Menschen; und auch als eine rechte Mitte zwischen der Raiserstadt Peking im Norden mit ihren für die Festzüge ausgelegten Prachtstraßen und Ranton, der Hauptstadt ameisenhafter Geschäftigkeit (sie) im Süden, die so eng ist, die so kargt mit ihrem Raum, daß die etwas prunkvolleren Sänften in den Hohlwegen übereinander hinweg gehoben werden müssen... Und da diese Stadt schließlich die Hauptstadt ist unter denen, die sich Tibet zuwenden und ihm gegenüberliegen, hoffte ich, in ihr einen Abglanz des geplünderten Tibet und die zersprengten Reste seiner Horden zu erblicken... Schließlich die chinesische Stadt, die weder Mandschu- noch Rüstenstadt noch -in ihren kaum assimilierten Tributpflichtigen des Südens - Barbarenstadt ist. Daraufwar ich gefaßt. Ich ersehnte es so sehr nach vier Monaten Marsch; und ich - finde nach vier Monaten Marsch:

Eine volkreiche, bevölkerte Stadt, aber ohne Pöbel; weder allzu planmäßig angelegt noch allzu verwinkelt. Die Straßen gepflastert mit jenem breiten, elastischen, grauvioletten Sandstein, der unter dem Eisen der Hufe und unter den Sohlen nachgibt; Straßen, erfüllt vom Hin und Her der Schritte, in denen man trotzdem unbeschwert im Trab einherreiten kann; in denen die reichhaltigen Läden ständig überquellen von Seiden, von Farben und Wohlgerüchen... auch solchen, die man nicht erwartet hatte; die mit äußerster Sorgfalt genähten Schuhe zeigen ihre kurzen Schnabel. Schinken wölben ihre glänzende Hinterbacke; Tabakschnüre und ihr schwerer, dunkler Ton; rote Eier, in schrecklichem Rrapprot angemalte Eier wirken stumpfer als der umbrafarbene, grünliche Schimmer der konservierten, geschälten Eier daneben. Jene flaumweichen Juwele aus türkisblauen, mit silbrigem Niello überzogenen Federn; gegerbtes Leder, und rohe, unbearbeitete Häute; alte Gürtel und neue Patronengurte ... Häubchen aus malvenfarbener Seide, und Stapel von Tüchern, ganze Säulen aus Seide, aus fester Seide, die nach Seidengewicht verkauft wird in taubengrauen Tönen, in Chinagrün und in Granat. Dann Strähnen, die von rot zu weiß ausbleichen, denen der Farbton entgleitet wie einer Lautensaite, deren Schlüssel man aufdreht, der Ton... Die Lebensmittel, diese äußerst flatterhaften Stoffe, sorgsam eingefaßt in jedem Laden oder Geschäft, dessen Rahmen besteht aus: einem schönen Schwarz und aus Gold. Die Pfosten sind lackiert mit einem schönen dunkelbraunen, schwarz glänzenden und rötlich schimmernden Firnis, mit dem Lack aus Tcheng-tu, und von nirgendwoher sonst...

Wenn man diesen fast überdachten Straßen nachgeht, auf denen die Farben sich fangen und zurückstrahlen in der schwirrenden Luft, befindet man sich-in einem langen geschlossenen Gang, in dem man Ellbogenfreiheit hat. Weniger offen für alle Winde, die ohnehin in Se-tchuan so selten wehen, weniger geschlossen als der große Abwasserkanal Rantons, ist die Straße in Tcheng-tu über und über mit den stolzesten und tiefsten Farben geziert: mit Altgold auf schwarzem Lack. »Schwarz« ist zu vergröbernd für das, was ich hierin festhalten will. Dieses scheinbare Schwarz ist in Wirklichkeit ein tiefes, warmes, rötliches Braun, in dem das alte Gold der Dynastie durchschimmert. Indessen ist dies keine Raiserstadt wie Peking, und es ist auch kein Ort der Händler und Schieber. Aber die ganze Macht der Provinzen spiegelt sich strahlend in diesen Reichtümern, in diesen Farben. So wie das volkreiche Se-tchuan unter den achtzehn Provinzen des Reiches an Menschen die fruchtbarste ist, so ist seine Hauptstadt die Zuflucht seiner Meister und Zünfte und der wichtigste Gegenspieler dessen, was Peking fremd ist, was sich der Hauptstadt entgegenstellt...

Und im jähen Sturm ist es auch die Rönigin der Raubzüge und des Tauschhandels zwischen dem tributpflichtigen Tibet und der riesigen Kaiserin Asiens. Wenn das ungezähmte Tibet Wohlverhalten zeigt und sich herabläßt, Verträge zu schließen und Handel zu treiben, dann ist hier der Umschlags- und Durchgangsplatz — aber der Austausch ist begrenzt und spärlich. Wenn Tibet sich auflehnt und die Abgesandten Chinas tötet und dann von mörderischen Strafexpeditionen heimgesucht wird, dann werden ebenfalls in Tcheng-tu die noch warmen, nach Weihrauch duftenden Trophäen aus den Tempeln der Lamas und der Gums in alle Himmelsrichtungen verschachert. Dann werden einige Monate lang in der Stadt Türkise als Pflastersteine, als Kiesel, als Schmuck und als Staub feilgeboten; in den Straßen liegen dunkle, barbarisch anmutende Gemälde aus, auf denen in grellblauem Glorienschein auf rotem Grund furchterregende Götter mit prallem Glied sich an ohnmächtig hingestreckten Tempeldienerinnen vergehen und an ihren zehn Armen hundert Finger in die Dunkelheit des rauchigen Hintergrunds recken; es sind Gemälde aus Tibet. - Victor Segalen, Aufbruch in das Land derWirklichkeit. Frankfurt am Main und Paris 1984  (zuerst 1924)

Ende der Welt Stadt

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