tadt, heilige   Jetzt sind wir schon den dritten Tag in Jerusalem, und noch hat mich keine der erwarteten Gefühlsbewegungen überkommen: weder religiöse Begeisterung noch Erregung der Phantasie, und auch kein Haß auf die Priester, was immerhin etwas heißen will. Ich fühle mich angesichts all dessen leerer als ein hohles Faß. Tatsache ist, daß heute morgen am Heiligen Grab ein Hund bewegter gewesen wäre als ich. Wer ist schuld daran, barmherziger Gott? Sie? Du? oder ich? Sie, glaube ich, dann ich und vor allem Du! Ach, wie falsch das alles ist! Und wie sie lügen! Nichts als Tünche, Double, Lack, für die Ausbeutung, die Propaganda und die Werbung bestimmt. Jerusalem ist ein von Mauern eingefriedetes Beinhaus; das erste, was uns seltsam aufgefallen ist, war die Schlachterei. Auf einer Art viereckigem Platz, bedeckt mit Bergen von Unrat, ein großes Loch; in dem Loch geronnenes Blut, Eingeweide, Kacke, schwärzlichbraune Därme, außenrum von der Sonne fast kalziniert. Das stank außerordentlich und war in seiner freimütigen Äußerung von Schmutz schön. Wie sagte doch ein Mann der sinnreichen Vergleiche und feinen Anspielungen? »Das erste, was wir von der Heiligen Stadt zu sehen bekamen, war Blut.« - (orient)

Stadt, heilige (2) ßenares! Nirgends in der Welt gibt es fettere Rinder und dickere Affen — und nirgends gibt es magerere und elendere Menschen. Hier hat das Leben einen anderen Inhalt als irgendwo sonst in der Welt. Vernunft und Logik, das sind Dinge, die es nicht gibt in der heiligen Stadt; Wahnsinn ist hier zur Methode, zu vielen tausend Methoden geworden. Be-nares, die Stadt dos Herzens, die Stadt des Gefühls, die Stadt der wildesten Mystik, die Stadt, die die Gottheit in sich selbst erlebt. Denn die brahmanische Religion verachtet tief das Hirn und den Kopf: sie wendet sich nur an das Blut und an das Herz. Und der nährende Muskel, der dem gewaltigen Körper dieses Kultus ßlut gibt, der alte, ewig junge Herzmuskel des Hindutumes, das ist die Ganga und die heilige Stadt an ihren Ufern: Waranasi, die Stadt, die das beste Wasser hat. —

So ist ßenares die heilige Stadt des Wahnsinns. Ich fühle sie wohl — irgendwo in mir. Irgendein längst gestorbener Instinkt aus der Urväter Zeit wacht in mir auf: der mag sich wohl in Verbindung setzen mit ihr. Ich aber kann es nicht. Ich kann das nicht greifen, was die Menschen Benares nennen. Nichts bleibt mii von ihr als ein schwüler, entsetzlicher Klang und eine fressende Flamme des Wahnsinns.  - Hanns Heinz Ewers, Indien und Ich. München 1918 (zuerst 1911)
 

Stadt Heiligkeit

 

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