Spurenlesen   Während sie sich mühsam ihren Weg durch das Wäldchen auf der Spur des Herrn mit Schuhgröße 45 bahnten, sagte Lord Peter: »Bisher hatte ich geglaubt, daß diese gefälligen Verbrecher, die ihren Pfad mit kleinen persönlichen Schmuckgegenständen bestreuen, eine Erfindung von Kriminalroman-Autoren seien.«

»Du hast ja noch Zeit zum Lernen«, tröstete ihn Parker. »Außerdem wissen wir nicht, ob diese Brillantkatze dem Mörder gehört. Sie könnte ja auch von einem Mitglied deiner Familie sein und schon seit Tagen hier liegen. Sie kann auch diesem Herrn Montague gehören und schon seit Jahren dort gelegen haben.«

»Ich werde mich bei meiner Familie erkundigen«, sagte Lord Peter, »und wir könnten im Dorf feststellen, ob jemand den Verlust einer Brillantkatze angezeigt hat. Es sind kostbare Steine, das ist kein Schmuckstück, das man verlieren würde, ohne Aufhebens davon zu machen. Aber jetzt habe ich die Spur verloren!«

»Hier ist sie; er ist über eine Wurzel gestolpert.«

»Geschieht ihm recht«, knurrte Lord Peter und richtete sich auf. »Ich muß schon sagen, daß der menschliche Körper nicht sehr geschickt für das Verfolgen von Spuren konstruiert ist. Wenn man auf allen vieren gehen könnte oder Augen in den Knien hätte, wäre es viel praktischer.«

»Vom kriminalistischen Standpunkt aus hat die Schöpfung ihre Mängel«, meinte Parker.  - Dorothy Sayers, Lord Peters schwerster Fall. Bern München 1976

Spurenlesen (2) Wenn ich ewig in dieser himmlischen Lage schweben könnte, würde ich in immerwährender Freude mich seihst genießen; aber meine Aufgabe ist ja trotz allem, das Labyrinth zu sein, und somit sind meine Abstraktionen auch ein träges Ausweichen. Ich werde also ganz allmählich zu mir hinabsteigen. Während des Hinabsteigens wird mir der Pfad, mit dem ich geliebäugelt habe, immer klarer; aber jetzt nehme ich noch anderes wahr: der Weg wird ständig von Hindernissen gestört und unterbrochen, die ich von oben nicht erblickte: Gräben, winzige Pfützen, plötzlich abbrechende Furten, baufällige Mäuerchen, Treppen, denen eine oder mehr Stufen fehlen; und schließlich muß ich mir sagen, dieser Pfad führt nicht von einem Ort zu einem anderen, sondern ist eine Täuschung meines zwar scharfen, aber zusammenfassenden Auges, ein untauglicher, zum Scheitern verurteilter Weg. Von der Höhe aus, wo das zusammenhanglose Gestammel des Pfades offenkundig wird und ich sein schlammiges, erdiges Material sehe, die Steine, die auf ihm Hegen, unterscheide, die Wassergräben entlang blicke, die ihm seitlich folgen und ihn unvermittelt kreuzen, von dem Punkt aus, sage ich, erscheint mir das Labyrinth völlig anders, als ich es vermutet hatte. Nun ist es ein lehmiger, finsterer Sumpf, ein Ort, dessen Farbe an Schlamm und verwelktes und faulendes Laub gemahnt; und die Wege, die es mit aberwitziger, manischer Beharrlichkeit durchkreuzen, erscheinen mir Triften zahlloser Herden, Pfade archaischer Tiere, die den Ort von da nach dort allmählich mit immer verzweifelteren Füßen gezeichnet haben, durstige, verirrte Tiere, Herden ohne Hirten, gezwungen, ein Labyrinth zu zeichnen, das es vielleicht ursprünglich gar nicht gab, zu dieser elenden Aufgabe gezwungen von einer Raserei, einem Wahn, einer erbarmungslosen Angst. Ich frage mich also folgendes: ob das Labyrinth in früheren Zeiten schon da war oder, besser, ob es jetzt noch da ist, ob es sich nicht um eine optische Täuschung handelt oder ob nicht eine weise Hailuzination sinn-, ausgangs- und eingangslose Wege in den Schlamm zeichnet; ob schließlich das, was ich Labyrinth genannt habe, nichts anderes ist als das Geogramm des Wahnsinns von Tieren, die vor Angst verrückt geworden waren, da sie sich vor dem Tod fürchteten, den sie dann wirklich starben; ein Wirrwarr von Spuren, das ich sehr wohl als die graphische Darstellung einer Tierkrankheit lesen kann; vielleicht amüsiert mich auch die Vorstellung, die Spuren, denn so sehen sie aus, seien ein ungeschickter Versuch, etwas aufzuschreiben, eine Botschaft, eine ungeordnete, aber syntaktisch komplexe Anrufung, die Überreste eines Blutbads, das niemand wollte und das sich nun in diesen verschwindenden, katastrophischen Zeichen selbst belegt. Ware es so, dann gäbe es nicht nur kein Labyrinth, sondern wäre auch die Mühe, nach einem Weg zu suchen, vollkommen illusorisch, denn, wo die Zeit die verzweifelten Herden zu Staub gemacht hat, da bilden ihre in den Boden gezeichneten und zu Stein gewordenen Spuren für den Wanderer kein Hindernis, und ich kann den Raum in allen Richtungen durchmessen, nicht mehr verwirrt von der Angst, einen auserwählten Weg entziffern zu müssen, da ja ein Weg wie der andere ist, und wenn der Ruhm des Ausgangs und die zarte Phre-nesie des Eingangs fehlt, dann fehlen auch das Abenteuer, der Schrecken oder die Hoffnung, sich zu verirren. Und trotzdem muß ich mich fragen, was eigentlich diese Herden waren, woher sie kamen, wieso ihre schreckerstarrten Spuren ihre Leiber überlebt haben, die gewichtig genug waren, um solche Spuren zu hinterlassen. Müßte ich denn nicht eigentlich Skelette, Schädel, Schienbeine, Hörner oder Hufe herumliegen sehen? Wie sollte ich leugnen, daß ich mich nun als Opfer einer beklemmenden Frage fühle, da ich mir sagen muß, daß die Bilder, die ich mir nach und nach vom Labyrinth gemacht habe, einander ausschließen und daher alle, oder mindestens alle außer einem, ungenau sein müssen?

Also werde ich das Labyrinth aus größerer Nähe betrachten müssen. Nun sehe ich deutlich eine verwickelte, geometrische, schmerzlich überlegte Zeichnung, die auf keinen Fall von den zahllosen Spuren schreckergriffener Tiere herrühren kann. Ein scharfsinniger und scharfsichtiger Geist scheint mit boshafter Geduld diese geographische Karte gezeichnet zu haben, da sie mit jedem Strich den sachkundigen Schöpfer verrät, der ihr ein ganzes Leben gewidmet hat. Was für ein Leben? Nun unterscheide ich meinen Pfad nicht mehr, er ist nicht nur zerstückelt, sondern scheint verschwunden zu sein, sicherlich ist er einer der vielen illusorischen Pfade, die durch den ihnen zugewiesenen Raum zu laufen scheinen. Denn von diesem Beobachtungspunkt aus entsteht der Eindruck, das Knäuel der Wege sei mit soviel Überlegung und Sachkenntnis abgewickelt worden, daß es sich in einer Abfolge von Knoten, Windungen und Schlingen verfängt; da und dort plötzlich abreißt, als hätte ihn unvermittelt eine Klinge durchschnitten, und er nun eher aussieht wie ein kunstvoll erfundenes Gefängnis, ein Ort, eigens dazu entworfen, keinen Weg nach draußen zu gewähren, Ausgeburt und Bau eines Wahnsinns, der nicht etwa eine blind gewordene Herde, sondern ein vergeblich nachdenkliches und absichtlich syllogistisches Wesen ergriffen hat.  - Giorgio Manganelli, Das Labyrinth. In: (irrt)

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