pur  Es gibt eine Art von Wissenschaft, beziehungsweise einen Umgang mit der Wissenschaft, der nur schwer einzuordnen und dessen Geschichte nicht leicht zu verfolgen ist. Dabei geht es nicht um "Techniken" im allgemeinen Sinne des Wortes. Aber es geht auch nicht um die "Naturwissenschaften" als "Königswissenschaften" oder als gesetzmäßiges Wissen, das geschichtlich begründet ist. Einem vor einiger Zeit erschienenen Buch von Michel Serres zufolge kann man diese Spur sowohl in der Atomphysik von Demokrit bis Lukrez, als auch in der Geometrie des Archimedes verfolgen. Die Merkmale einer solchen exzentrischen Wissenschaft scheinen folgende zu sein:

1. Sie benutzt ein hydraulisches Modell und ist keine Theorie von festen Körpern, die Flüssigkeiten als Sonderfall behandelt; der antike Atomismus ist untrennbar von Strömungen, die Strömung ist die Realität selber oder die Konsistenz. — 2. Dieses Modell ist ein Modell des Werdens und der Heterogenität, das dem Feststehenden, Ewigen, Immergleichen und Dauerhaften gegenübergestellt wird. Es ist ein "Paradox", aus dem Werden als solches ein Modell zu machen und es nicht mehr nur als sekundäres Merkmal einer Kopie anzusehen. Platon hat im Timaios auf diese Möglichkeit hingewiesen, aber nur, um sie im Namen der Königswissenschaft auszuschließen und zu verbannen. Im Atomismus dagegen wird durch die berühmte Deklination der Atome ein Modell der Heterogenität, ein Modell des Übergangs oder Werdens im Heterogenen geschaffen. Das clinamen als minimaler Winkel hat nur zwischen einer Geraden und einer Kurve Sinn, zwischen einer Kurve und ihrer Tangente, und es bildet die ursprüngliche Bewegungskurve des Atoms. Das clinamen ist der kleinste Winkel, durch den das Atom von der Geraden abweicht. Es ist eine Annäherung an den Grenzwert, eine Exhaustion, ein paradoxes, ein "ausschöpfendes" Modell. Das Gleiche gilt für die archimedische Geometrie, wo die Gerade, die als "kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten" definiert wird, nur ein Mittel ist, um die Länge einer Kurve in einer prädifferentialen Rechenart zu bestimmen. — 3. Man geht nicht mehr in einer laminaren oder lamellaren Strömung von einer Geraden zu ihren Parallelen über, sondern von einer kurvenförmigen Deklination zur Bildung von Spiralen, Strudeln und Wirbeln auf einer schiefen Ebene: die stärkste Neigung für den kleinsten Winkel. Von der turba zum turbo: das heißt, von Banden oder Meuten von Atomen zu großen, wirbelförmigen Anordnungen. Das Modell ist wirbelförmig, es bezieht sich auf einen offenen Raum, in dem die Dinge und Strömungen sich verteilen, statt einen geschlossenen Raum für lineare und feste Dinge aufzuteilen. Das ist der Unterschied zwischen einem (vektoriellen, projektiven oder topologischen) glatten Raum und einem (metrischen) eingekerbten Raum: im einen Fall "besetzt man den Raum, ohne ihn zu zählen", im anderen "zählt man den Raum, um ihn zu besetzen". — 4. Schließlich ist das Modell problematisch und nicht mehr theorematisch: die Figuren werden nur im Verhältnis zu Affektionen betrachtet, die ihnen zustoßen: Schnitte, Wegnahmen, Hinzufügungen, Projektionen. Man geht weder durch spezifische Differenzen von einer Gattung zu ihren Arten über, noch durch Deduktion von einem beständigen Wesen zu Eigenschaften, die daraus abgeleitet werden, sondern von einem Problem zu den Zufällen, die es bedingen und lösen. Es gibt hier alle möglichen Deformationen, Transmutationen, Annäherungen an die Grenze, Arbeitsschritte, bei denen jede Figur eher ein "Ereignis" bezeichnet als ein Wesen; das Viereck existiert nicht mehr unabhängig von einer Quadratur, der Kubus nicht mehr unabhängig von einer Kubatur und die Gerade nicht mehr unabhängig von einer Rektifikation. Während das Theorem zur rationalen Ordnung gehört, ist das Problem affektiv und untrennbar mit Metamorphosen, Generierungen und Schöpfungen in der Wissenschaft selber verbunden.  - Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus. Berlin 1992 (zuerst 1980)

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