Spürsinn   Es stellt sich heraus, daß die Sampans, die, wie ihr Name schon sagt, aus drei Planken (San-pan) bestehen, es ihrer Kleinheit verdanken, rechtzeitig wenden zu können und keine besonderen Steuerbewegungen nötig zu haben.

Nun ist aber der Mietsampan, der zu der Dschunke gehört, vor kurzem nicht bei einem Schiffbruch, sondern aufgrund seiner Baufälligkeit gesunken. Da genügend Geldmittel zur Verfügung standen, hat man ihn durch ein stabileres, gut ausgerüstetes Dienstschiff ersetzt, ein Boot mit fünf Planken, ein Wu-pan, dessen aus drei Männern bestehende Besatzung großspurig rote Festons auf ihren blauen Uniformen trägt. Damit wird es ein Vergnügen sein, die heiklen, dreistufigen Stromschnellen hinunterzufahren.

Und plötzlich ergibt sich des weiteren, daß den Steuermann des Wu-pan, der die ruhige Fahrt vor den Stromschnellen ausnutzen will, um ein bißchen zuviel Feuerwerkspulver in einem wie ein Schaumlöffel durchlöcherten Rochtopf zu erhitzen, die ganze Ladung ins Gesicht fliegt, so daß er sich unter Deck jämmerlich windet, geblendet, verbrannt, lebendig geschunden, rabenschwarz versengt, so daß er nicht einmal mehr weinen kann...

Da tauchen die Stromschnellen auf, da sind wir schon im Sog vor der Wasserzunge. Wir sind an dem Punkt, wo keine Maschine mehr den Rückwärtsgang einlegen kann, wo man um jeden Preis hindurch muß oder zerschellt; - wo die Dschunke zerschellt und man ertrinkt im salzlosen Wasser, im trüben und schmutzigen Wasser, daß sich dahinwälzt und in einem fort selbst ausspeit... Unmöglich, auf die beiden Matrosen am Bug zu zählen: es sind Leute vom Oberlauf des Flusses - zweihundert Meilen von hier -, sie legen sich schwer ins Ruder und wissen, daß darin ihre ganze Aufgabe besteht. Das übrige... nun, der Steuermann macht das übrige... Vom übrigen wissen sie nichts...

Ich muß den Steuermann abgeben, da ich etwas von den Stromschnellen weiß... Ich weiß sehr wohl (und ich sage mir die Lektion auf, als Lektion), daß der Sin-tan aus drei Stromschnellen.besteht... daß man die erste, wenn es sich um eine breite Dschunke handelt, mit voller Breitseite passiert, oder mit dem Bug nach vorn, wenn es ein San-pan ist. Aber »wir« sind weder Dschunke noch San-pan... wir haben »fünf Planken«, also was tun? Einen »Mittelwert« zugrundelegen? Wie mittelmäßig! Es machen wie breitere Schiffe? Wie unbeholfen! Versuchen wir, es wie der Sampan zu machen. Und ich stehe am Heck, mit beiden Händen am Griff des »Sao«.

Der »Sao«, sein Name gibt es zu erkennen, »fegt« über den Fluß, und er ist ein wunderbares Instrument. Die Übersetzung »Wrickruder« ist falsch, da der »Sao« nicht zum Antrieb, sondern zur Steuerung dient. Das Wort Pinne oder »Heckruder« ist ungenau, denn er ist stärker, besser im Gleichgewicht durch den Stein, der in der Nähe des Schafts festgebunden ist, er ist kraftvoller, ja auch empfindlicher als jenes Instrument.

Ich stehe also am »Sao«. Ich weiß wohl, ich spüre deutlich, daß mir von nun an keine einzige der zitternden Regungen des Flusses mehr entgehen wird. Die »Haut des Flusses« kennt keinen Schauer, der Fluß unter dem Bauch des Wu-pan wird keinen Muskel spielen lassen, ohne daß ich an einem leichten Flattern seiner Haut schon alle Bewegungen erspürt hätte, die er machen wird...

Mit einem einzigen Anschlag des Sao, dessen Holz erzittert, habe ich den »Wu-pan« mitten in die Strömung hineingelenkt... Die erste Stromschnelle zieht mich in ihren Sog, rauscht an mir vorbei und wuchtet mich in das reißende Wasser, daß allzu geradlinig auf das mir wohlbekannte Ziel zuschießt: die offenen Felsen... Ich weiß, daß ich eine Wende nach Backbord machen muß... Also den Sao ganz nach Steuerbord, und ich ziehe am Schaft, im Tosen des Wassers und in dem Schwung, der mich nach rechts drückt, aber das Boot nach links abdriften läßt; und der Stein behält seinen Kurs bei und droht, mich ins Wasser zu schleudern ... bis zu dem harten Stoß... Es ist das Tau des Sao, das sich meldet und mir vergegenwärtigt, daß jede Anstrengung ihre Grenze nicht überschreiten soll.

Das Boot scheint in die richtige Richtung zu treiben. Ohne Zweifel muß man die Geschwindigkeit halten, die resultiert aus derjenigen des Flusses, die sich am Vorübergleiten der Ufer ablesen läßt, und der Eigengeschwindigkeit des Bootes. Es scheint, daß das Boot schneller ist als der Fluß, und daß wir der Spitze gerade noch zuvorkommen... Aber ganz plötzlich gerät alles in Strudel, in unvorhergesehene Wirbel, in Wasserbewegungen, von denen der Lotse mir nie etwas gesagt hat. Ich kann den beiden Bootsmännern am Bug nichts zurufen. Sie legen sich in die Riemen im gleichmäßigen Takt des guten Gewissens...

Und dann erreicht der Strudel seine äußerste Heftigkeit: ich zögere... ich bewege den Sao unentschlossen hin und her; meine Arme sind noch nicht mit ihm vertraut, und ihre Bewegungen heben sich gegenseitig auf... Ich versuche, mich an das Gelernte zu erinnern. Dennoch gilt es zunächst, den Felsen dort zu umschiffen. Wenn es mir nicht gelingt, wenn der Fluß, der mich schnurgerade auf ihn zutreibt, stärker ist als ich... dann prallen wir gegen ihn, ich, das Schiff, der Verbrannte und die beiden Matrosen. Diese sind immer noch unbekümmert am Rudern, voller Vertrauen auf den europäischen Schiffsherrn... Der Fluß ist dem Anschein nach flach, aber das Ufer rast schrecklich schnell dahin. Ich rufe mir ins Gedächtnis, daß man erst Fahrt gewinnen muß, um gut zu steuern. - Ich rufe »schnell«, die beiden armen Teufel ducken sich unter dem Kommando und lassen ihre Dollen knirschen. Es geht schon besser. Aber nein. Von neuem erfassen mich die Strudel. Ein Wasserschwall vor dem Bug wirft mich nach rechts, mitten hinein in den Wirbel; nun hilft auch die Geschwindigkeit nichts mehr; und die beiden anderen legen sich mit aller Kraft ins Zeug, wie Irre, wie leichtgläubige Tore! Das Schiff macht einen Kopfstand, und das verwaschene Panorama der felsigen Schluchten um mich her ist ein anderes geworden, wie es scheint.

Der Faustschlag des Wassers gegen die Flanke des Schiffes hat mich mitten ins Gesicht getroffen; und der lächerliche Tanz wird zum Taumel der Augen und des Kopfes, den quälend die Reue durchzuckt, etwas versucht zu haben, was ich nicht vermochte... Es ist der trunkene Reigen der Selbstvorwürfe und Zweifel: man hätte wie bei einer Dschunke steuern müssen! - Ruhig Blut! - Es wäre besser gewesen, überhaupt nicht durchzufahren... Jetzt bin ich schon im voraus ertrunken, genüßlich male ich mir den Gemütszustand eine r Wasserleiche aus! - »Man sieht sein ganzes Leben an sich vorüberziehen«... erstaunliche Dinge... aber ich werde nicht ertrinken. Ich werde mir den Kopf an dem Felsen zerschmettern, der mit zehn Knoten auf mich zuschießt... gerade vor mir, dann ist der Kreis von neuem geschlossen... Aber wenn man trotzdem durchkäme? Die Leute am Bug sind unermüdlich und lassen nicht nach. Sie haben Vertrauen. Oder aber sie sehen nichts... Wenn wir durchkämen... Schon bin ich im Wirbel der Felsen, mit dem Bug senkrecht zum Stein, zehn Längen vom Einschnitt entfernt, ganz weit links... Da eine letzte Hoffnung, und ich reiße den Sao ganz nach links.

Nein! Ich weiß nicht, wie ich mich auf ihn gestürzt habe, um ihn mit aller Kraft herumzureißen, barfuß auf den klatschenden Planken. Ich habe den Sao weit ausschlagen lassen, so daß das Schiff sich ganz nach rechts drehte, und plötzlich - ich war mir meiner Sache ganz sicher - sah ich, wie das Schiff zwei Fingerbreit von den Steinen vorbeisetzte, sich hüpfend um die eigene Achse drehte, sich zitternd wieder fing und endlich im tiefen Wasser schwamm, nachdem es, ohne selbst zu wissen wie, einen Zwischenkanal, eine unbekannte Fahrrinne passiert hatte... Die Männer haben sich nicht umgedreht: ich lasse sie das Ruder absetzen. Gefaßt und ruhig wischen sie sich den Schweiß ab: sie wissen nicht, wie knapp wir davongekommen sind: allein der, der immer noch wimmernd unter Deck liegt, hätte es bezeugen können, wäre er Augenzeuge geworden!

Aber lange Zeit vermag ich es mir selbst nicht zu erklären. Warum habe ich, anstatt bis zum Ende nach den erlernten Regeln zu kämpfen, ganz plötzlich und genau an der richtigen Stelle das Ruder herumgerissen, wider alle Berechnung, aus trotzigem Leichtsinn? Nein. Ich kann mir keine bessere Antwort geben als: »Aus Instinkt«. In jenem Augenblick, der der sagenumwobenen Hellsicht des Ertrinkenden würdig war, habe ich »verstanden«, daß das Aufsagen des Gelernten der Tod wäre, daß es darauf ankam, schnell und erfinderisch zu sein, und wenn dabei ein anderer Tod in Kauf zu nehmen war. Die Fahrtrinne war unsichtbar, aber ich kann beschwören, gespürt zu haben, vielleicht an den untergründigen Bewegungen des Sao, vielleicht an einem fast unmerklichen Zittern des Wassers - daß es eine bessere und unbekanntere Möglichkeit gab...  - Victor Segalen, Aufbruch in dasLand der Wirklichkeit. Frankfurt und Paris 1984 (zuerst 1924)

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