prache,
kimmerische
Der Raum ist eng, die Wände sind zugestellt mit Regalen, eins
steht sogar mangels Anlehnfläche mitten im Zimmer und teilt den knappen Raum
in zwei Hälften, so daß der Schreibtisch des Professors und der Stuhl, auf den
du dich setzen sollst, durch eine Art Kulissenwand voneinander getrennt sind
und ihr die Hälse recken müßt, um euch zu sehen.
»Man hat uns in diese Kammer unter der Treppe verbannt ... Die Universität dehnt sich aus, und wir schrumpfen zusammen ... Wir sind das Aschenputtel der lebenden Sprachen ... sofern man das Kimmerische noch als eine lebende Sprache betrachten kann ... Doch gerade das macht ja seinen Wert!« ruft er mit einem plötzlichen Aufbegehren, das jedoch gleich wieder abklingt. »Ich meine die Tatsache, daß es eine moderne und zugleich eine tote Sprache ist... Eine privilegierte Existenzweise, mag sie auch niemand als solche wahrnehmen ...«
Du fragst: »Sie haben nicht viele Studenten?«
»Wer soll denn schon kommen?« klagt er. »Wer entsinnt sich denn heute noch der Kimmerer? Es gibt doch heutzutage so viele unterdrückte Sprachen, die attraktiver sind ... Baskisch ... Bretonisch ... Sinti ... Die belegen sie alle ... Nicht daß sie die Sprache studieren, das will heutzutage keiner mehr ... Nein, sie wollen Probleme, um darüber zu diskutieren, allgemeine Ideen, die sich mit anderen allgemeinen Ideen verbinden lassen. Meine Kollegen passen sich an, gehen mit , dem Strom, nennen ihre Kurse ›Soziologie des Gälischen‹ oder ›Psycholinguistik des Okzitanischen‹ ... Beim Kimmerischen geht das nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil die Kimmerer einfach verschwunden sind, wie vom Erdboden verschluckt!«
Er schüttelt sich, als wollte er seine ganze Geduld zusammennehmen, um etwas
schon hundertmal Wiederholtes zu sagen: »Dies ist ein totes Institut für eine
tote Literatur in einer toten Sprache. Wozu soll heute noch jemand das Kimmerische
studieren? Ich bin der erste, der dafür Verständnis hat, ich bin der erste,
der den Studenten sagt: Bitte, wenn ihr nicht kommen wollt, dann bleibt eben
weg! Von mir aus kann das Institut auch geschlossen werden ... Aber herzukommen,
um dann hier ... Nein, das ist zuviel!« - Italo Calvino, Wenn ein Reisender
in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)
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