piegelschnake Der Ziegenbart schien sich unter ihrem Griff aufzulösen, und auf einmal saß sie in aller Ruhe unter einem Baum, während die Schnake (denn die war das Insekt, mit dem sie sich unterhalten hatte) ihr zu Häupten sich auf einem Zweig wiegte und ihr mit den Flügeln Luft zufächelte.

Man konnte wohl sagen, es war eine sehr große Schnake. »So groß wie eine Henne etwa«, dachte Alice. Aber Angst konnte sie vor ihr trotzdem nicht mehr empfinden, nachdem sie sich schon so lange miteinander unterhalten hatten.

»— daß du nicht alle Insekten magst?« fuhr die Schnake fort, als sei überhaupt nichts geschehen.

»Ich mag sie schon, wenn sie reden können«, sagte Alice. »Wo ich her bin, reden sie alle nicht.«

»Welcher Insekten erfreut man sich denn dort, wo du her bist ?« erkundigte sich die Schnake.

»Ich erfreue mich ihrer überhaupt nicht«, sagte Alice, »weil ich nämlich ziemliche Angst davor habe — wenigstens vor den größeren Arten. Aber einige Namen kann ich dir schon sagen.«
»Sie hören natürlich auf ihre Namen?« bemerkte die Schnake leichthin. »Nicht daß ich wüßte.«

»Wozu brauchen sie denn die Namen«, sagte die Schnake, «wenn sie nicht darauf hören?«

»Sie selbst brauchen sie auch nicht«, sagte Alice, »sondern wahrscheinlich nur die Leute, die sie bezeichnen wollen. Wozu sollte denn sonst überhaupt etwas einen Namen haben?«

»Da bin ich überfragt«, sagte die Schnake. »In dem Wald dort drüben hat nichts einen Namen — aber laß dich nur nicht aufhalten mit deiner Aufzählung.«

»Also, erstens einmal die Pferdefliege«, sagte Alice und zählte dabei die Namen an ihren Fingern ab.

»Gut«, sagte die Schnake; »dort im Gebüsch kannst du auf halber Höhe eine Schaukelpferdfliege erkennen, wenn du genau hinsiehst.

Pferdefliege

Sie besteht ausschließlich aus Holz und bewegt sich dadurch fort, daß sie sich von Ast zu Ast schaukelt.« «Wovon ernährt sie sich?« fragte Alice mit großer Wißbegier. »Harz und Sägemehl«, sagte die Schnake. «Weiter.« Alice sah sich die Schaukelpferdfliege sehr aufmerksam an und kam zu dem Schluß, daß sie offenbar gerade frisch gestrichen war, so glänzend und klebrig sah sie aus; dann fuhr sie fort:

«Ferner der Nachtfalter.«

«Sieh dir den Zweig über deinem Kopf an«, sagte die Schnake, «und du wirst einen Weihnachtsfalter entdecken. Sein Leib ist aus Plumpudding, seine Flügel aus Stechpalmen, und sein Kopf ist eine brennende Weinbrandrosine.«

»Und wovon ernährt sich der ?« fragte Alice wie zuvor. »Butterzeug und Spritzgebäck«, antwortete die Schnake; «seine Eier legt er auf Christbäumen ab.«

«Dann gibt es noch die Schmeißfliege«, fuhr Alice fort, nachdem sie das Tier mit dem lodernden Kopf eingehend betrachtet und sich dabei gefragt hatte: »Ob das wohl der Grund ist, warum Nachtfalter so gerne ins Licht fliegen — weil sie gerne Weihnachtsfalter werden möchten?«

»Zu deinen Füßen krabbelt«, sagte die Schnake (Alice zog sie erschreckt ein), »eine Schmausfliege. Ihre Flügel sind dünngeschnittene Butterbrote, ihr Leib ein Königskuchen und ihr Kopf ein Stück Würfelzucker.«

»Und die ernährt sich —»Von schwach ¥ Tee mit Sahne.«

Auch diese Auskunft machte Alice Schwierigkeiten. »Aber wenn sie nun einmal keinen findet?«

»Dann stirbt sie natürlich.«

»Das muß aber sehr oft passieren«, bemerkte Alice nachdenklich.

»Es passiert immer«, sagte die Schnake.

Daraufhin schwieg Alice eine Weile still und sann nach. Die Schnake vertrieb sich inzwischen die Zeit damit, ihr immerfort rund um den Kopf zu summen; schließlich setzte sie sich wieder hin und bemerkte: »Vermutlich möchtest du deinen Namen nicht verlieren?«

 »Nein, allerdings nicht«, sagte Alice etwas besorgt.

»Und doch, wenn du bedenkst«, sagte die Schnake leichthin, »wie praktisch das wäre, wenn du es fertigbrächtest, ohne Namen heimzukommen. Wenn dich zum Beispiel deine Gouvernante hereinriefe zum Unterricht, müßte sie sagen: ›Komm jetzt —‹, und dann könnte sie nicht weitersprechen, weil sie keinen Namen zum Rufen hätte, und dann brauchtest du natürlich auch nicht zu kommen, nicht wahr?«

»So leicht käme ich gewiß nicht davon«, sagte Alice; »aus einem solchen Grund würde mir die Gouvernante auch nicht im Traum eine Stunde erlassen. Wenn sie meinen Namen nicht mehr wüßte, würde sie mich eben ›Miss‹ nennen, wie die Dienstboten.«

»Nun, wenn sie ruft und du verstehst immer nur ›Miss‹«, warf die Schnake ein, könntest du ja immer sagen, du hättest sie mißverstanden. Das war ein Scherz. Ich wollte, du hättest ihn gemacht.«

»Warum möchtest du, daß ich ihn gemacht hätte?« fragte Alice. »Er ist sehr schlecht.«

Aber die Schnake seufzte nur tief auf, und zwei dicke Tränen rollten ihr die Wangen herab.

»Du solltest keine Scherze machen«, sagte Alice, »wenn du so traurig davon wirst.«

Darauf ertönte wieder einer jener dünnen, schwermütigen Seufzer, und diesmal schien sich die Schnake ganz und gar zerseufzt zu haben, denn als Alice aufsah, saß da überhaupt nichts mehr auf dem Zweig; und da Alice auf dem kalten Boden ohnehin schon gefröstelt hatte, stand sie auf und ging weiter. - Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln (it 97, zuerst 1872)

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