Spekulation  Über Beaver, oder Jeremy, wie seine Mutter ihn wohl nennt, versucht Roger, so wenig wie möglich nachzudenken. Natürlich quält er sich mit Spekulationen über technische Einzelheiten. Sie kann doch unmöglich - oder etwa doch? - mit Jeremy die gleichen Sachen machen wie mit ihm. Küßt ihr Jeremy zum Beispiel jemals die Muschi? Ist es denkbar, daß dieser Schnösel - daß sie ihm beim Vögeln um den Hintern greift u-und, seine Englische Rose, einen schelmischen Finger in Jeremys Arschloch steckt? Schluß, Schluß mit dem Gegrübel (aber schleckt sie nun seinen Schwanz? Hat er seine arrogante Visage wohl jemals zwischen ihren süßen Arschbacken gehabt?), es hat keinen Sinn, er ist doch nicht mehr siebzehn, besser ab ins Tivoli, Maria Montez und Jon Hall anschauen, oder in den Zoo im Regent's Park zu den Leoparden und Pekaris, wo er außerdem noch überlegen kann, ob es vor halb fünf wohl regnen wird.   - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg 1981

Spekulation (2)  Er lese die Angaben, fuhr der Kommissär fort: »Große, hagere Gestalt, die Haare grau, früher braunrot, die Augen grünlichgrau, Ohren abstehend, das Gesicht schmal und bleich, mit Säcken unter den Augen, die Zähne gesund. Besonderes Kennzeichen: Narbe an der rechten Augenbraue.«

Das sei er genau, sagte Hungertobel.

Wer, fragte Bärlach.

Emmenberger, antwortete der Arzt. Er habe ihn aus der Beschreibung erkannt.

Es sei aber die Beschreibung des in Hamburg tot aufgefundenen Nehle, entgegnete Bärlach, wie sie in den Akten der Kriminalpolizei stehe.

Um so natürlicher, daß er die beiden verwechselt habe, stellte Hungertobel befriedigt fest. »Jeder von uns kann einem Mörder gleichen. Meine Verwechslung hat die einfachste Erklärung der Welt gefunden. Das mußt du doch einsehen.«

»Das ist ein Schluß«, sagte der Kommissär. »Es sind jedoch noch andere Schlüsse möglich, die auf den ersten Blick nicht so zwingend erscheinen, aber doch als ›auch möglich‹ näher untersucht werden müssen. Ein anderer Schluß wäre: nicht Emmenberger war in Chile, sondern Nehle unter dessen Namen, während Emmenberger unter des andern Namen in Stutthof war.«

Das sei ein unwahrscheinlicher Schluß, wunderte sich Hungertobel. Gewiß, antwortete Bärlach, aber ein zulässiger. Sie müßten alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.

»Wo kämen wir denn da um Gottes willen hin!« protestierte der Arzt. »Da hätte Emmenberger sich in Hamburg getötet und der Arzt, der jetzt die Klinik Sonnenstein leitet, wäre Nehle.«

»Hast du Emmenberger seit seiner Rückkehr aus Chile gesehen?« warf der Alte ein.

»Nur flüchtig«, antwortete Hungertobel stutzend und griff sich verwirrt an den Kopf. Die Brille hatte er endlich wieder aufgesetzt.

»Siehst du, diese Möglichkeit ist vorhanden!« fuhr der Kommissär fort. »Möglich wäre auch folgende Lösung: der Tote in Hamburg ist der aus Chile zurückgekehrte Nehle, und Emmenberger kehrte aus Stutthof, wo er den Namen Nehle führte, in die Schweiz zurück.«

Da müßten sie schon ein Verbrechen annehmen, sagte Hungertobel kopfschüttelnd, um diese sonderbare These verfechten zu können.

»Richtig, Samuel!« nickte der Kommissär. »Wir müßten annehmen, daß Nehle von Emmenberger getötet worden sei.«

»Wir können mit dem gleichen Recht auch das Umgekehrte annehmen: Nehle tötete Emmenberger. Deiner Phantasie sind offenbar nicht die geringsten Grenzen gesetzt.«

»Auch diese These ist richtig«, sagte Bärlach. »Auch sie können wir annehmen, wenigstens im jetzigen Grad der Spekulation.«

Das sei alles Unsinn, sagte der alte Arzt verärgert.

»Möglich«, antwortete Bärlach undurchdringlich.

Hungertobel wehrte sich energisch. Mit der primitiven Art und Weise, wie der Kommissär mit der Wirklichkeit vorgehe, könne kinderleicht bewiesen werden, was man nur wolle. Mit dieser Methode würde überhaupt alles in Frage gestellt, sagte er.

»Ein Kriminalist hat die Pflicht, die Wirklichkeit in Frage zu stellen«, antwortete der Alte. »Das ist nun einmal so. Wir müssen in diesem Punkt durchaus wie die Philosophen vorgehen, von denen es heißt, daß sie erst einmal alles bezweifeln, bevor sie sich hinter ihr Metier machen und die schönsten Spekulationen über die Kunst zu sterben und vom Leben nach dem Tode ausdenken, nur daß wir vielleicht noch weniger taugen als sie.«   - Friedrich Dürrenmatt, Der Verdacht. [Mit: Der Richter und sein Henker] Zürich 1978

Spekulation (3)  »Unter den Schuldigen«, sagte Z., »die für die ewige Wiederkehr der Krisen haftbar gemacht werden, spielt die Figur des Spekulanten eine besonders beliebte Rolle. Aber was es mit diesem Bösewicht auf sich hat, wo er herstammt und welche Masken er trägt, das wird vielleicht manchen überraschen. Speculieren nämlich nannten die Mystiker des Mittelalters ‹das bis zur Verzückung sich steigernde Versenken in religiöse Betrachtung›. So steht es nicht nur bei Grimm. Alles vom lateinischen specere. Speculari bedeutet nichts anderes als >ins Auge fassen, sich nach etwas umsehen<.« »Das ist doch nichts weiter als Wortklauberei«, wandte der Ungeduldigste unter uns ein. »Von Verzückung kann an der Wall Street kaum die Rede sein.« »Aber Sie wissen doch, daß es zwischen der Theologie und dem Kapital mehr als eine Schnittstelle gibt! Warum gibt es Gläubiger und Schuldner, warum spricht die Notenbank von der Geldschöpfung, und woher kommt der Kredit? Das hat alles eher heiligmäßig angefangen, bis es mit einem seman-tischen Salto auf den Kopf gestellt wurde. Schon  Luther  war  das   Spekulieren  verdächtig, weil davon in der Bibel nicht die Rede war. Bald verstand man darunter nur noch ein müßiges, windiges  Spintisieren. Und schließlich waren die Kaufleute an der Reihe, die auf dem Sprung waren, Risiken einzugehen, und ihre Erfolgsaussichten berechnen wollten. Der brave Campe schlug in seinem Wörterbuch von 1801 vor, den Spekulanten zu verdeutschen und ihn fortan  ‹Handelsspäher› zu nennen.«

»Statt auf die Sache selbst einzugehen, klammern Sie sich an die Geschichte der Wörter. Sie machen sich lustig über uns.« »Und Sie lachen mich aus. Doch ich bleibe dabei, daß die Wörter mehr sagen als die Politiker, die den Mund damit voll nehmen. Wer weiß schon, daß auch der Spiegel im Badezimmer aus der Antike kommt? Ein speculum zeigt immer nur, was der Fall ist, und genau dasselbe tut die Spekulation. Sie hält der Realität den Spiegel vor. Kein Wunder, daß sie mit ihren Ratings wenig Beifall findet.«   - Hans Magnus Enzensberger, Herrn Zetts Betrachtungen oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern. Berlin 2014

Spekulation (4)   ich muß sagen, ich hatte seit je eine Schwäche für spekulative Abfassungen, Fiktionen, Kombinationen, deduktive Ausschweifungen, studierte dies und das, fand den Existentialismus unterhaltend und las die Kategorienlehre wie einen Wallace - Spezialbegabung von mir wie bei anderen Schach oder Sprachen. Oft auch bildete ich mich durch Unterhaltungen mit Kunden, Höherstehenden, selbständig Urteilenden - Bauräten, Vertretern, Sachbearbeitern -, andere Sphären taten sich auf, ein Schriftsteller zum Beispiel, der öfter kam und sich mit einem bestimmten Blauwasser das Haar waschen ließ, das verlieh seinem weißen Schöpf einen silbernen Glanz, äußerte auf meine Bemerkung, sein letzter Artikel sei interessant gehalten, er habe ein Grauen vor der furchtbaren Brutalität der Aus drucks findung, der Formgeburt, niemand werde ihm weismachen, die höchste Macht sei sanft und bei Liedern drehe sie die Spindel -: „Ich bin sicher, sie beugt das Haupt und hört entsetzt die Felsen stürzen."    - Gottfried Benn, Der Ptolemäer. Berliner Novelle 1947. In: G. B., Prosa und Szenen. Ges. Werke Bd. 2. Wiesbaden 1962
 
 

Denken Möglichkeit Vermutung

 

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