parrengerüst  Anschaulicher Skeptizismus   Neben dem theoretischen Skeptizismus der Philosophen gibt es einen gefährlicheren, anschaulichen - eine von der Norm sehr weit entfernte Art der Einsicht, die vielleicht nur dadurch möglich wird, daß die Natur die Gewänder, die sie dem Leben überwirft, nicht scharf genug zuschneidet. So bleibt an den Nähten allerlei Überflüssiges bestehen. Überflüssig ist etwa, daß der Fisch, nachdem die Köchin ihn schlachtete, in der roten Pfanne noch Sprünge vollführt. Ebenso machen wir in Lagen, in denen wir vielleicht die Ohnmacht vorzögen, etwa während des Sturzes in den Abgrund, noch überflüssige Wahrnehmungen.

Was freilich für unser natürliches Leben überflüssig und schmerzlich ist, kann im Geistigen ungemein aufschlußreich sein. Auch gibt es einen Grad des Erstaunens, der die Furcht verdrängt - in diesem Zustande lüftet sich ein feiner Schleier, der die Welt fast immer bedeckt. So sagt man, daß im Mittelpunkte der Zyklone vollkommene Windstille herrscht. Man soll dort die Dinge unbewegter, leuchtender und deutlicher erblicken als sonst. An solchen Punkten stehen dem Auge exzentrische Einblicke frei, denn die übertriebene Wirklichkeit gleicht einem Spiegel, in dem auch das Trügerische sichtbarer wird.

Es scheint mir, daß auch im Kriege, und zwar unmittelbar nach der Erstürmung des ersten Grabens, eine ähnliche Stille sich ausbreitete. Nach dem Orkan der Artillerien, nach dem Anlauf, nach dem Kampf Mann gegen Mann, trat eine tiefe Ebbe ein. Das wütende Tosen der Schlacht in ihrer bedeutsamsten Steigerung wurde durch ein jähes Schweigen abgelöst. Mit der Vernichtung des Gegners war das Gesetz des Handelns erfüllt, aber auch aufgehoben, und das Schlachtfeld glich für kurze Zeit einem Ameisenhaufen, dessen Aufruhr unter dem Banne der Sinnlosigkeit erstarrt. Jeder stand regungslos - wie ein Zuschauer, vor dessen Augen ein riesenhaftes Feuerwerk abgebrannt ist, aber zugleich als ein Handelnder, der schreckliche Taten verrichtet hat.

Dann begann das Ohr die eintönigen Schreie der Verwundeten zu vernehmen; es war, als ob eine einzige, ungeheure Explosion alle zugleich getroffen hätte. Diese Schreie, in denen das erstaunliche Leiden der Kreatur zum Ausdruck kam, waren gleichsam der verspätete Protest des Lebens gegen die noch rauchende historische Maschinerie, die achtlos über Fleisch und Blut hinweggerollt war.

An Augenblicke dieser Art erinnere ich mich so stark, daß ich noch den Geruch des Pulvers zu schmecken meine, der in Schwaden dem durch Geschosse aufgepflügten Boden entstieg. Es war ein wunderlicher Ausdruck der Verwirrung, der auf allen Gesichtern geschrieben stand - als ob hinter feurigen, wie durch einen Zauberschlag verschwundenen Theater-Dekorationen die verblüffende Auflösung eines lange gesuchten Rätsels erschienen sei. Vor dem ermatteten inneren Auge erglomm die Gegenfarbe einer glühenden und blitzenden Illusion, die sich aus der Dumpfheit des Traumes nährte und aus einer den Wahnsinn streifenden Leidenschaft.

Daß die Welt ein riesiges Narrenhaus ist, aber daß hinter der Narrheit Methode, ja vielleicht Bosheit steckt --- daß man als ein unter dem Gesetze einer höheren Regie improvisierender Statist an einem Schauspiel teilgenommen hat, während dessen man nicht denken konnte, und dessen Bild man nun erst mit dem Bewußtsein einholt und vor ihm erstarrt --- daß man, im höchsten Sinne preußisch gesprochen, im Dienst gewesen ist - -- alles dies wird im gedankenlosen Zustande geahnt, in einer Mischung von Erschöpfung und Scharfsinn, und mit einer durch die Nähe des Todes geschärften Witterung.

Vielleicht hatte sich die Welt zu üppig mit den roten und gelben Farben des Feuers geschmückt; nun trat als Nachbild ihr schwarzes Sparrengerüst hervor. Darüber aber streifte gleich einer Schwinge ein sehr heiteres Gefühl, das jenem glich, mit dem man beim Erwachen sich geträumter Verwirrungen entsinnt.

War es nicht so, als ob der Weltgeist seine Hüllen ein wenig zu heftig, ein wenig zu hastig bewegt hätte, so daß das Verschleierte für einen Augenblick dem stumpfen Sinn erschien? Wenn die Welt aus den Fugen geht, entstehen Risse, durch die wir Geheimnisse der Architektur erraten, die uns gemeinhin verborgen sind. So schien es mir, als ob für einen Augenblick eine tiefere Wirklichkeit als die des Sieges sich der Herzen bemächtigte, während sich aus der zweiten Linie bereits von neuem die Mündungen des Todes auf sie richteten. - (ej2)

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Wahrnehmung, überflüssige
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