ozialismus  »Hören Sie gut zu«, sagte der  Abbé. »Früher ging man ins Kloster, wenn man dieser Welt überdrüssig und angeekelt von ihr war, und wer genug gesunden Menschenverstand hatte, blieb dabei. Heute, wenn man der Welt überdrüssig und von ihr angeekelt ist, schlägt man sich zur Revolution, und ist man intelligent genug, dann kommt man ungeschoren davon. Tun Sie, was Sie wollen. Ich werde nie einen Menschen daran hindern, zu tun, wozu er Lust hat. Sie werden noch daran denken, was ich Ihnen eben gesagt habe.«

Seit drei Wochen verkehre ich schon im »Sozialistenkreis«, dreißig Centimes das Glas Bier, und ich fange an, mich zu fragen, ob der Abbé nicht doch recht hatte. Ich machte mir nicht viel aus seinen Ansichten, schob vielmehr alle vorgefaßten Meinungen beiseite, ebenso wie alle selbst im entgleisten Bürger noch schlummernden Vorurteile. Ich war bereit, die frohe Botschaft zu hören. Aber leider war die frohe Botschaft keine frohe Botschaft, und neu war sie schon gar nicht. Ich habe mich in die Mysterien des Sozialismus einführen lassen, des einzig wahren, des wissenschaftlichen Sozialismus, und ich habe mir seine Propheten angesehen. Ich habe die Achtundvierziger mit ihren Bärten, die Einundsiebziger mit ihren Mähnen und all die anderen mit ihrem Gegeifer gesehen. Ich war auf Versammlungen, wo sie dem guten Volk weismachten, die Herrschaft der Massen sei im Keim schon in der kapitalistischen Gesellschaft vorhanden, weshalb es völlig ausreiche, sich der öffentlichen Ämter zu bemächtigen, und alles werde wie am Schnürchen laufen. Der Vierte Stand brauche sich nur durch sie, die Propheten, vertreten zu lassen, und schon werde er die Hand am Pfannenstiel haben ... Ich dachte aber, noch besser war's, wenn es überhaupt keine Pfannen gäbe und niemanden, der sich darin schmoren ließe ... Ich habe sie ihre eisernen Gesetze proklamieren hören. Sie hielten es für notwendig, daß Männern und Frauen gleiche Löhne gezahlt würden ... Ich dachte aber, der bürgerliche Codex habe wenigstens so viel Scham, überhaupt nicht an Frauenarbeit zu denken ... Sie meinten: Nur die Ruhe, kaltes Blut bewahren, rührt euch nicht, wenn die Regierung euch provoziert, achtet das Gesetz .. . Und das gute Volk, das »Wahlvieh«, klatschte Beifall. Dann erklärten sie die Idee vom Generalstreik zu einer reaktionären Idee. Und das gute Volk klatschte noch mehr Beifall.

Ich sprach auch mit einigen dieser Leute, mit Abgeordneten, Journalisten, nichtssagenden Typen. Ein Professor hatte das Katheder mit der Tribüne vertauscht, was dem Katheder sehr zugute kam. Pedantisch, schwülstig, platzend vor Eitelkeit; der Sirup seiner Rhetorik blies ihm die Hängebacken auf wie pralle Ballons. Ein anderer, ausladender Leichenredner, war Erzpriester der Karl-Marx-Kirche, er näselte seine Reden, und was er sagte, hing voller Altweiberfäden. Ein dritter machte immer noch am allgemeinen Wahlrecht herum, ein ulkiger Vogel mit der Visage eines intelligent dreinschauenden Gänserichs — er rückte jedem auf den Leib, der anderer Meinung war als er — ein abscheulicher Kerl! Und noch einer, und noch einer — wie viele waren es ...? All die anderen. - Georges Darien, Der Dieb. Nördlingen 1989 (Die Andere Bibliothek 54, zuerst 1897)

 

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