ophisma Wie
gern sich der Mensch doch an den Türschwellen der
Phantasie aufhält! Dieser Gefangene möchte
noch so gern ausbrechen, an der Schwelle der Möglichkeiten zögert er, er fürchtet,
diesen Weg schon zu kennen, der ja doch nur in seinen Kerker zurückführt. Man
hat ihn den Mechanismus der Gedankenverkettung gelehrt und der Unglückliche
hat geglaubt, seine Gedanken wären angekettet. Er führt für seine Vernunft,
für sein Phantasieren phantastische Gründe an. Er hat über Kants
Sophismus nachgegrübelt: "Würde der Zinnober bald rot,
bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch
bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert
werden, am längsten Tage bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee
bedeckt sein, so könnte meine empirische Einbildungskraft
nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren
Zinnober in die Gedanken zu bekommen; oder würde ein gewisses Wort bald diesem,
bald jenem Dinge beigelegt, oder auch eben dasselbe Ding bald so, bald anders
benannt, ohne daß hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von
selbst unterworfen sind, herrschte, so könnte keine empirische Synthesis
der Reproduktion stattfinden.« Und der Mensch zweifelt, denn er mag die petitio
principii nicht, er ahnt, worauf Klein-Immanuel hinauswill mit seinen betörenden
Worten, er sieht das Mißliche an diesem intellektuellen Verhalten und er sagt
sich, daß man ihn mit den im zweiten Akt versprochenen nackten Haremsdamen und
mit dieser sentimentalen und billigen Musik doch nur hereinlegen will. Verschwinde,
Tölpel - ! Du hältst Morast für festen
Boden. Du wirst nie versumpfen! Weil du nicht die unendliche Macht des Irrealen
kennst. Deine Phantasie, mein Lieber, taugt mehr als du denkst. -
(ara)
Sophisma (2) Es
gibt keinen ärgeren Sophismus als zu behaupten, die Ausübung des Geschlechtsaktes
sei notwendigerweise begleitet von einem Nachlassen der erotischen Spannung
zwischen zwei Menschen, einem Nachlassen, das in der Wiederholung Schritt für
Schritt dahin führe, daß sie einander nicht mehr genügen. So setze die Liebe
in dem Maße, als sie ihre Verwirklichung erstrebe, sich selber der Zerstörung
aus. Immer dichter sinke ein Dunkel über das Leben, Schicht um Schicht bei jedem
neuen Ausbruch des Lichtes. Der Mensch sei hier berufen, nach und nach das Merkmal
seiner Erwahltheit für einen anderen einzubüßen, wider Willen sehe er sich auf
die bloße Substanz zurückgeworfen. Eines Tages werde er erlöschen, von nichts
als seinem eigenen Glanz verzehrt. Der große Hochzeitsflug führe zur mehr oder
minder langsamen Verbrennung eines Wesens in den Augen des anderen; sei diese
Verbrennung geschehen, würden jedem von ihnen andere Geschöpfe sich mit Reiz
und Geheimnis schmücken, und beide wären, auf die Erde zurückversetzt, frei
für eine neue Wahl. Nichts Herzloseres, nichts Trostloseres als diese Vorstellung.
Doch kenne ich keine, die weiter verbreitet und eben darum geeigneter wäre,
einen Begriff zu vermitteln von dem großen Jammer der gegenwärtigen Welt. Eine
Julia, die weiterleben würde, wäre also nicht immer mehr Julia für Romeo! Es
ist nicht schwer, die beiden Grundirrtümer aufzudecken, die einer solchen Ansicht
Vorschub leisten: der eine gesellschaftlicher, der andere moralischer Herkunft.
Der gesellschaftliche Irrtum, gegen den es kein anderes Heilmittel gibt als
die Zerstörung der ökonomischen Grundlagen der augenblicklichen Gesellschaft,
wurzelt In dem Umstand, daß es dem, der liebt, nicht -wirklich erlaubt
ist, aus freier Wahl sich zu entscheiden, daß dort, wo eine solche Wahl ausnahmsweise
sich durchzusetzen strebt, dies in einer Atmosphäre der Nicht-Wahl geschieht,
die jedem Gelingen feindlich gesonnen ist. Die schmutzigen Erwägungen, die man
dieser Liebe entgegenhält, der heimliche Krieg, den man gegen sie führt, mehr
noch die immer angriffsbereiten, ihr heftig widerstreitenden Vorstellungen,
die sie allenthalben umgeben, sind, wie man wohl zugeben muß, allzu oft danach
angetan, sie zu entmutigen. Aber diese Liebe trägt die größten Hoffnungen,
die seit Jahrhunderten in der Kunst ihren Ausdruck gefunden haben, und es
fällt mir schwer, einzugehen, was unter erneuerten Lebensbedingungen ihren Sieg
verhindern sollte. Der moralische Irrtum, der mit dem eben genannten um die
Wette dahin führt, die Liebe in der zeitlichen Erstreckung als ein Versiegen
und Hinschwinden sich vorzustellen, gründet in dem Unvermögen der meisten Menschen,
sich frei zu machen von allen Bedenken, die der Liebe fremd sind, von jeder
Furcht, wie jedem Zweifel, wehrlos -dem blitzenden Auge des Gottes sich auszusetzen.
Auch hier ist die Erfahrung des Künstlers, wie die des Wissenschaftlers, eine
große Hilfe, weil sie zeigt, daß alles, was sich bildet und bleibt, um zu sein
zuvor diese Hingabe forderte. Man kann gar nichts Besseres tun, als dahin wirken,
daß die Liebe jenen bitteren Nachgeschmack verliert, den beispielsweise die
Poesie nicht kennt. Ein solches Unterfangen kann aber sein Ziel nicht erreichen,
solange dem niederträchtigen christlichen Gedanken der Sünde noch nicht überall
der Garaus gemacht ist. Es hat niemals eine verbotene Frucht gegeben. Nur die
Versuchung ist göttlich. Daß einer das Bedürfnis empfindet, den Gegenstand dieser
Versuchung auszuwechseln, ihn durch ein anderes Wesen zu ersetzen, zeugt schon
dafür, daß er bereit ist, sich gegen die Unschuld zu vergehen, ja daß er ohne
Zweifel sich gegen sie schon vergangen hat. Gegen die Unschuld im Sinne des
Freiseins von jedem Schuldgefühl. Wenn die Wahl wirklich frei war, kann, wer
sie getroffen hat, sie unter keinen Umständen anfechten. Da und nirgendwo anders
entsteht das Schuldgefühl. Die Entschuldigung der Gewöhnung, des Überdrusses
lasse ich hier nicht gelten. Die gegenseitige Liebe, wie ich sie hier betrachte,
ist eine Vorrichtung aus vielen Spiegeln, die mir unter den tausend Blickwinkeln,
die das Unbekannte für mich einnehmen kann, das getreue Bild der Geliebten zurückwerfen:
immer überraschender im Erraten meines eigenen Verlangens und immer goldstrahlender
vor Leben. - André Breton, L'Amour fou. Frankfurt am Main 1983 (zuerst
1937)
Sophisma (3) L'nter den Lehren Tlöns hat keine so großen Anstoß erregt wie der Materialismus. Einige Denker haben ihn, weniger klar als inbrünstig, so formuliert, wie man ein Paradoxon vorträgt. Um diese unbegreifliche These dem Verständnis näherzubringen, ersann im 11. Jahrhundert ein Häresiarch das Sophisma von den neun Kupfermünzen, das ob seiner Anstößigkeit auf Tlön so berüchtigt ist wie bei uns die Aporien der Eleaten. Von diesem »Scheinargument« gibt es viele Versionun. in denen die Zahl der Münzen und die Zahl der Funde variieren; hier die geläufigste:
»Am Dienstag überquert X einen öden Weg und verliert neun Kupfermünzen. Am Donnerstag Findet Y auf dem Weg vier Münzen, die der Regen vom Mittwoch ein wenig hat rosten lassen. Am Freitag entdeckt Z drei Münzen auf dem Weg. Am Freitag morgen findet X zwei Münzen im Flur seines Hauses.« Der Häresiarch wollte aus dieser Geschichte die Realität - id est die Kontinuität - der neun wiedererlangten Kupfermünzen ableiten. »Es ist absurd, sich vorzustellen«, behauptete er, »daß vier der Mün/en zwischen Dienstag und Donnerstag, drei zwischen Diensiag und Freitag nachmittag, zwei zwischen Dienstag und Freitag früh nicht existiert haben. Es ist logisch anzunehmen, daß sie -sei es auch auf eint-geheime, dem Begreifen des Menschen verschlossene Weise - in sämtlichen Augenblicken dieser drei Zeitspannen existiert haben.«
Die Sprache von Tlön widersetzte sich der Formulierung dieses Paradoxons;
die meisten verstanden es überhaupt nicht. Die Verfechter des gesunden
Menschenverstandes beschränkten sich anfangs darauf, der Anekdote jeden
Wahrheitsgehalt abzusprechen. Sie hoben wiederholt hervor, es handle sich um
eine sprachliche Täuschung, beruhend auf der tollkühnen Verwendung
zweier durch den allgemeinen Gebrauch nicht autorisierter und jedem strengen
Denken fernstehender Neologismen: der Verben »finden« und »verlieren«,
die eine petitio principii darstellen, da sie die Identität der
neun ersten und der neun letzten Münzen voraussetzen. Sie gaben zu bedenken,
daß jedes Substantiv (Mensch, Münze, Donnerstag. Mittwoch. Regen)
nur einen metaphorischen Wert hat. Sie wiesen auf den perfiden Nebenumsiand
hin: »die der Regen vom Mittwoch ein wenig hat rosten lassen«, der
voraussetzt, was erst bewiesen werden soll: die Andauer der vier Münzen
zwischen dem Donnerstag und dem Dienstag. Sie erklärten, daß »Gleichheit«
etwas anderes ist als »Identität«. - Jorge Luis Borges: Tlön, Uqubar, Orbis
Tertius. Nach
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