- Berliner Zeitung vom 8. Dezember 2004
Sonnenkönig (2) Unter
den Gefangenen wird der Schönste ausgewählt. Er ist von dem Augenblick an zum
großen Akt der Erlösung auserkoren. Er wird prunkvoll
gekleidet, Räucherwerk brennt auf seinen Wegen, Tierblut wird ausgegossen, man
reicht ihm Blumen, Früchte und Körner. Früher opferte man ihm die Neugeborenen.
Er kann sich frei und ungehindert bewegen und besucht alle Dörfer. Überall fällt
die Menge vor ihm auf die Knie und betet ihn an, denn er ist das lebende menschliche
Ebenbild der Sonne. Er führt einen Monat lang ein Schlemmerleben, alle Hütten
stehen ihm offen, man kocht ihm die besten Gerichte, man tischt ihm das schönste
Stück Wildbret auf und bewirtet ihn mit Waldhonig und gegorenem Palmwein. Dann
vermählt er sich in aller Öffentlichkeit mit den vier schönsten Jungfrauen,
die für ihn allein ausersehen sind. Die Häuptlingsfrauen buhlen um seine Gunst,
und die Weiber des ganzen Stammes bieten ihm ihre unberührten Töchter
an. Alle, die er befruchtet, gelten als heilig, werden tabu und ziehen sich
in die Acclas, die Klosterdörfer zurück, wo sie mit ihren Angehörigen keinerlei
Verbindung mehr haben. Aus seiner Nachkommenschaft wird nach dem Tod des Häuptlings
dessen Nachfolger gewählt. An dem vorbestimmten Tag ergreifen die Priester den
vergötterten Menschen und reißen ihm das Herz aus dem Leib, und das Volk singt
dazu: »Helela, heute! Wir brauchen dich nicht mehr als König, wir brauchen die
Sonne nicht mehr als Gott. Wir haben schon einen Gott,
zu dem wir beten, und einen Herrn, für den wir zu sterben bereit sind. Unser
Gott ist der große Ozean, der uns umgibt, und jedermann
kann sehen, daß er größer ist als die Sonne und uns reichlich Nahrung spendet.«
- (
mora
)
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